Beabsichtigte Zerstörung und Vertreibung

Jenny Bolliger

Schonungslose Kriegsführung

Die israelische Armee gibt sich gern als human aus und verweist dabei beispielsweise auf ihr Warnsystem, bei dem die Bevölkerung mit abgeworfenen Flyern oder über arabische Nachrichten aufgefordert wird, gewisse Kampfgebiete zu verlassen. Gleichzeitig fehlen in Gaza jegliche Schutzräume, die Warnungen sind oft unpräzis und die angegebenen Fluchtrouten wurden wiederholt bombardiert. Wie schon der Goldstone-Bericht1 zum Gazakrieg 2008/09 feststellt, entbinden Warnungen die Angreifer nicht von der Pflicht, zwischen Zivilpersonen und Kombattanten zu unterscheiden. Zudem kann die Aufforderung zur «Evakuierung» des nördlichen Gazastreifens, wie Amnesty International2 schreibt, auch nicht als wirksame Warnung angesehen werden, sondern dürfte einer Zwangsvertreibung gleichkommen. Aussagen führender israelischer Militärstrategen deuten darauf hin, dass sie die Entvölkerung und Wiederbesetzung3 zumindest von Teilen des Gazastreifens planen.

Als Besatzungsmacht kennt Israel die Verhältnisse im Gazastreifen im Detail. Es verfügt über präzise Daten über die Infrastruktur und ein Bevölkerungsregister und könnte sehr genau einschätzen, wer und was bei einem Angriff zu Schaden kommt. Dass Israel zu präzisen Angriffen in der Lage wäre, zeigt nicht zuletzt die gezielte Tötung eines Hamas-Vertreters im Libanon. Die unglaublich hohe Anzahl getöteter und verwundeter Menschen macht deutlich, dass die IDF kaum zwischen Kämpfern und Zivilpersonen unterscheidet. Die massive Zerstörung lässt sich auch auf den Einsatz von neuen, automatisierten KI-Technologien4 zur Erfassung von Zielen zurückführen (siehe S. 24). Gleichzeitig setzt Israel ungelenkte Bomben ein, die flächendeckende Zerstörungen mit sich bringen5.

Anstatt behaupteter gezielter Angriffe auf Hamas-Kämpfer folgt Israel eher der Dahiya-Doktrin6, die den Einsatz unverhältnismässiger Gewalt und die Zerstörung staatlicher und ziviler Infrastruktur7 bei Militäreinsätzen vorsieht, um die Bevölkerung zu terrorisieren. Gleichsam als Rechtfertigung betonte der israelische Staatspräsident Isaac Herzog8: «Es handelt sich um eine ganze Nation, die verantwortlich ist. Die Behauptung, dass die Zivilbevölkerung nichts gewusst habe und nicht beteiligt gewesen sei, stimmt überhaupt nicht. Sie hätten gegen dieses böse Regime kämpfen können.»

Unstimmigkeiten

Unter den Todesopfern der Angriffe vom 7. Oktober befinden sich laut neueren Erkenntnissen auf israelischer Seite rund 760 bewaffnete und nicht bewaffnete Zivilpersonen sowie rund 370 Angehörige von Armee und Polizei. Viele der Opfer wurden gezielt durch die palästinensischen Milizen getötet, andre kamen in Feuergefechten ums Leben. Eine nicht unerhebliche Anzahl Opfer insbesondere des Musikfestivals geht offenbar auf das Konto der israelischen Armee9. Zeugenaussagen deuten darauf hin, dass die IDF sowohl am Festival als auch im Kibbutz Be’eri mit Helikoptern und Panzern auch auf zivile bzw. nicht genau unterscheidbare Ziele schoss. Neben Problemen in der Kommunikation dürfte dafür auch die gegen die dritte Genfer Konvention verstossende Hannibal-Direktive10 verantwortlich sein, die besagt, dass die Armee vorzieht, eigene Landsleute zu opfern, als zu riskieren, dass sie durch die Gegenseite gefangen genommen werden.

Eine Unstimmigkeit betrifft die Tatsache, dass gemäss Medienberichten die israelische Regierung offenbar Vorkenntnisse11 über einen detaillierten Angriffsplan der Hamas hatte, diese jedoch ignorierte. Wer auch immer wie viel Verantwortung für die Ereignisse vom 7. Oktober trägt, klar ist, dass die israelische Regierung beim Schutz der eigenen Bevölkerung nicht nur politisch, sondern auch militärisch versagt hat. Der frühere UN-Sonderberichterstatter für die besetzten Gebiete, Richard Falk, resümiert: «Dieser Angriff ist eindeutig von einigen verdächtigen Umständen begleitet, wie z. B. Israels Vorkenntnis, die langsame Reaktionszeit auf das Eindringen in seine Grenzen und, was vielleicht am problematischsten ist, die Schnelligkeit, mit der Israel einen Ansatz zum Völkermord mit einer klaren Botschaft der ethnischen Säuberung verfolgte.»12

Deklarierte Vertreibungsabsichten

Israelische Regierungsmitglieder sprechen offen über ihre Intentionen, die ethnische Säuberung13 des Gazastreifens im Zuge des laufenden Kriegs voranzutreiben. Die massiven Bombardierungen fordern nicht nur unzählige Menschenleben und traumatisieren die ganze Bevölkerung, sie bedeuten auch die Ausradierung von Orten des Wissens, der Erinnerung, des gesellschaftlichen Zusammenhalts wie Schulen, Universitäten, Moscheen, Kirchen, Friedhöfen, Archiven, Behörden, Kulturzentren und vielem mehr. Diese Fortsetzung der Nakba bringt das soziale Gefüge und die Gesellschaft als Ganzes ins Wanken und wird eine neue Generation hervorbringen, die nichts zu verlieren hat.14