Berichterstattung, Desinformation, Propaganda und die Rolle der Medien

Martina Guggenbühl

Wer nach dem 7. Oktober versuchte, die Taten der palästinensischen Milizen zu kontextualisieren, war rasch mit dem Vorwurf konfrontiert, diese zu verharmlosen. Das Argument der Kritiker:innen: Es gibt keine Erklärung für die verübte Gewalt. Wer auch nur versuche, die Frage nach dem Warum für diese Taten zu stellen, legitimiere das Vorgehen. So geschah es der Philosophin Judith Butler1, die die Gewalt nicht rechtfertigte, aber forderte, sie historisch einzuordnen. Dafür wird sie massiv angefeindet.

Eine Kontextualisierung des historischen Hintergrunds und der rechtlichen und sozialen Lebenssituation der Menschen vor Ort bedeutet nicht eine Billigung der Taten. Vielmehr geht es um die Einordnung und Beurteilung der Ereignisse. So wie bei jeder Straftat die Frage nach dem Warum gestellt werden muss.

Der Diskurs zu Israel/Palästina ist jedoch seit jeher beschränkt, der geschichtliche Hintergrund ist weitgehend ausgeblendet. Charakterisierungen wie Apartheid, Siedlungskolonialismus und Freiluftgefängnis werden mit dem Vorwurf des Antisemitismus delegitimiert. Fast jede Erzählung über Gewalt beginnt mit einem Anschlag von palästinensischer Seite. Die strukturelle Unterdrückung der Palästinenser:innen auf allen Ebenen wird nicht benannt und das Recht auf Widerstand gegen Besatzung, Vertreibung und andre Menschenrechtsverletzungen nicht anerkannt.

Bei den tödlichen Angriffen der palästinensischen Kämpfer wird die Unmenschlichkeit unterstrichen. Werden jedoch in Gaza Zivilpersonen zu Tausenden ermordet, so behandeln sie die Medien als unvermeidbare Kollateralschäden einer Militäroperation, deren Legitimität nicht infrage gestellt wird.

Genau dieser parteiische Diskurs bringt uns nicht weiter. Judith Butler begründet die Forderung nach Kontextualisierung wie folgt2: «Wenn wir wissen wollen, was die Gewalt in der Region reproduziert, um der Gewalt endgültig Einhalt zu gebieten, dann müssen wir mit den Historikern zusammenarbeiten, um die selbsternannte Kolonisierung dieser Länder durch die politischen Zionisten, die Bedingungen, unter denen der Staat Israel gegründet wurde, und die Geschichte der Enteignung, Entrechtung, Inhaftierung, Belagerung und Bombardierung zu verstehen. Wenn wir Frieden für die Region und eine Zukunft anstreben, in der alle Bewohner des Landes unter Bedingungen der Gleichheit und Freiheit leben, dann müssen wir gemeinsam neu darüber nachdenken, wie sich Staatsgebilde im Laufe der Zeit verändern können und sollten.»

Desinformation, Propaganda

Um einen verfälschten Diskurs aufrecht zu erhalten, werden Informationsquellen unterschiedlich gewichtet oder absichtlich gefälscht. Der überwiegende Teil der Informationen, die hiesige Medienkonsument:innen erreichen, hat seinen Ursprung in der israelischen Armee und anderen israelischen Behörden. Oft stellen sich Behauptungen später als Unwahrheiten oder bewusste Ungenauigkeiten heraus. Trotzdem werden israelische Staatsorgane oft unkritisch als Quellen benutzt. Die Angaben der Gesundheitsbehörden aus dem Gazastreifen über die Anzahl der Todesopfer werden dagegen mit der Ergänzung diskreditiert, sie liessen sich «nicht unabhängig überprüfen »3, obwohl sie sich in der Vergangenheit als relativ verlässlich bestätigt4 haben. Forderungen nach unabhängiger Berichterstattung werden von israelischer Seite zurückgewiesen, ausländischen Journalist: innen wird der Zugang zum Gazastreifen verwehrt5 und Medienschaffende6 vor Ort werden gezielt angegriffen, über 100 von ihnen wurden gemäss dem Palestine Journalist Syndicate in den letzten drei Monaten getötet. Um die Deutungshoheit zu behalten, pocht Israel mit Erfolg auf Sprachregelungen, die es bereits 2009 in einem eigenen Glossar7 definiert hat. Die palästinensische Seite soll gezielt entmenschlicht und legitimer Widerstand kriminalisiert werden.

Beispielhaft für die Dehumanisierung der Palästinenser: innen ist die mantraartige Betonung der besonders fürchterlichen Grausamkeiten8 der bewaffneten Angreifer aus dem Gazastreifen, die das Ziel verfolgt hätten, möglichst viele unschuldige Zivilist:innen möglichst brutal zu ermorden. Auch die Betonung, es handle sich um den schlimmsten Gewaltakt gegen Jüd:innen seit dem Holocaust, geht in diese Richtung. Als Beleg dafür wurde unter anderem ausgewählten Journalist:innen auch in der Schweiz Filmmaterial9 vorgelegt, ohne dass sie die Möglichkeit erhielten, das Material zu überprüfen, wie sonst üblich. Doch die Authentizität und insbesondere die Aussagekraft der Bilder10 sind zum Teil umstritten. Offenbar reicht es nicht, von Hamas und andren Milizen tatsächlich begangene Völker- und Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen, wie dies seriöse Menschenrechtsorganisationen11 tun. Den Kämpfern werden auch Taten unterstellt, die sie nicht begangen haben (geköpfte Babys) oder für die die israelische Armee verantwortlich ist (Beschuss von Häusern im Kibbutz Be’eri und Fahrzeugen am Nova-Festival), wie Recherchen von Mondoweiss12, Electronic Intifada13, Grayzone14 bzw. Journalisten wie Ali Abunimah15, Max Blumenthal16 und Asa Wistanley17 zeigen. Gravierend ist auch der von regierungsnahen Kreisen orchestrierte Vorwurf systematischer sexualisierter Gewalt, der von unzähligen westlichen Medien ungeprüft übernommen wurde und in Wikipedia18 Eingang findet, obwohl sich die bis dorthin vorgelegten Belege als wenig belastbar19 herausstellten. Dass es sexualisierte Gewalt gegeben hat, kann nicht ausgeschlossen werden und ist dort, wo sie stattgefunden hat, klar zu verurteilen. Perfid und gegenüber tatsächlichen Opfern zynisch ist aber die Strategie regierungsnaher israelischer Juristinnen, feministischen Organisationen weltweit gestützt auf manipulierte Belege20 und Spekulationen vorzuwerfen, sie ignorierten sexualisierte Gewalt absichtlich, weil die Opfer jüdisch seien. Gegen diese Instrumentalisierung von Vergewaltigungsvorwürfen wehren sich auch palästinensische Feministinnen21.

Gerade in der Frage der sexualisierten Gewalt wie in der Aufarbeitung der Ereignisse vom 7. Oktober insgesamt ist daher eine quellenkritische Berichterstattung und die Erleichterung unabhängiger Untersuchungen umso wichtiger. Israel ist daran nur begrenzt interessiert. Anstatt beispielsweise die verbrannten Autos vom Festival auf DNA-Spuren auszuwerten, sollen diese unter einem religiösen Vorwand geschreddert und begraben22 werden.

Ein weiteres Element der israelischen Propaganda und Desinformation sind die wiederholten Behauptungen, die Hamas missbrauche Spitäler und andre laut Völkerrecht unter besonderem Schutz stehende Infrastrukturen und die eigene Bevölkerung als Schutzschild, während Israel zivile Opfer u. a. durch Warnungen zu verhindern versuche. Wie sehr die israelische Armee dabei mit Manipulationen arbeitet, dokumentieren immer wieder Medien wie Al Jazeera23 (am Beispiel des Al-Shifa-Spitals) oder die in London basierte Initiative Forensic Architecture24, die nach detaillierten Auswertungen vorhandenen Bildmaterials zum Schluss kommt: «Unsere Analyse deutet darauf hin, dass die Krankenhäuser im Gazastreifen im Rahmen der laufenden Invasion einem systematischen Muster von Einschüchterung und Gewalt durch das israelische Militär ausgesetzt sind.»

Die Rolle der Medien

Damit dieser Diskurs greifen kann, braucht es Medien, die Israels verfälschte Darstellung und Sprache übernehmen und Gerüchte breitschlagen. Die Zeitschrift The Intercept25 unterzog drei US-amerikanische Zeitungen einer genaueren Analyse und ermittelte eine klar proisraelische Schlagseite. So wurde etwa der Begriff «slaughter» (Abschlachten) für die Tötung von Israelis im Vergleich zu Palästinenser:innen im Verhältnis von 60 zu 1 verwendet und «Massaker» im Verhältnis 125 zu 2. Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für das besetzte Palästinensische Gebiet, kommentierte wie folgt: «Nach Monaten, in denen westliche Medien den sich abzeichnenden Völkermord in Gaza und alle Arten von Völkerrechtsverletzungen an Palästinenser: innen falsch dargestellt oder nicht darüber berichtet haben, stellt sich die Frage: Haben Journalist:innen nicht einen Verhaltenskodex und eine Berufsethik, an die sie sich halten und für die sie zur Rechenschaft gezogen werden können?»

Der palästinensische Thinktank Al-Shabaka26 konstatiert: «Es liegt auf der Hand, dass die Sprache ein wichtiges Instrument für Unterdrückungsregime ist, nicht nur, um die andere Seite zu entmenschlichen, sondern auch, um die Realität auf den Kopf zu stellen. Worte wie ‹Evakuierung› und ‹sichere Routen› verschleiern die Realität von Massenvertreibung und Todesmärschen. Sie erwecken den Eindruck, dass es sich um eine wohlwollende Macht und nicht um ein völkermordendes Regime handelt. Alles als ‹Hamas-gesteuert› zu bezeichnen, gibt grünes Licht für Bombardierungen. So wird eine Schule, ein Krankenhaus oder eine Fabrik zu einem legitimen Ziel und Zivilist:innen werden zu ‹Kollateralschäden›. Israelische Beamte dehnen die Zugehörigkeit zur Hamas nun auf nahezu die gesamte Infrastruktur in Gaza aus – einschliesslich UN-Einrichtungen.» Diese Sprache Israels findet sich auch in zahlreichen europäischen und Schweizer Medien wieder. Mehr noch, sie tragen aktiv zur Diskreditierung von Friedens- und Menschenrechtsorganisationen, aber auch gewaltfreien Formen des Widerstands wie der BDS-Kampagne und israelkritischen Ansätzen bei. Für betroffene Organisationen und Personen kann dies gravierende Folgen haben. Zwei Beispiele:

Der Direktor des Friedensforschungsinstituts Swisspeace Laurent Goetschel sprach sich öffentlich gegen ein Verbot der Hamas aus und erwähnte die Einstaatenlösung als möglichen Lösungsansatz. Der Friedensforscher mit jüdischen Wurzeln begründete seine Opposition gegen das Verbot der Hamas damit, man müsse mit allen Stakeholdern verhandeln können, um Frieden zu erreichen. Seine Vorstellung von einem Staat knüpfte er an die Bedingung gleicher Rechte für alle Bewohner:innen, um eine friedliche Gesellschaft zu etablieren. Die Basler Zeitung bezeichnete ihn daraufhin als «israelfeindlich» und der Landrat des Kantons Baselland strich kurzerhand die finanzielle Unterstützung für das Institut – ein klarer «politischer Maulkorb für die Wissenschaft», wie Goetschel kommentierte.

Im Oktober 2023 strich das Aussendepartement (EDA) zudem mehreren palästinensischen Menschenrechtsorganisationen und NGOs die Unterstützung. Andra Studer, die für die Entwicklungszusammenarbeit in der Region zuständige Vizedirektorin der DEZA27, wurde von Aussenminister Cassis offenbar als Bauernopfer entlassen. Die Streichung der Gelder ordnete Cassis aufgrund von vagen Vorwürfen der Tamedia-Gruppe an, die entsprechenden NGOs hätten den Angriff vom 7. Oktober zu wenig verurteilt. Im Hintergrund hatte auch die zionistische Lobbyorganisation28 NGO Monitor ihre Finger im Spiel.

Die meisten Medien in der Schweiz tragen, sofern sie nicht eindeutig für Israel Partei ergreifen wie etwa die NZZ, in der einen oder andren Form aktiv dazu bei, den von Israel verfälschten Diskurs als einzig gültigen zu etablieren. Wer dem widerspricht, muss mit Konsequenzen rechnen oder, wie Laurent Goetschel es formuliert: «Wer nicht sagt, was man selber denkt, wird sofort in die Ecke gestellt.»


  1. www.freitag.de/autoren/der-freitag/judithbutler-ueber-den-terror-der-hamas-und-diegeschichte-der-gewalt
    und www.youtube.com/watch?v=FZZFi_0ytyo
  2. www.fr.de/kultur/gesellschaft/judith-butlerisrael-hamas-krieg-philosophin-interview-netanjahu-biden-antisemitismus-92678387.html
  3. www.20min.ch/story/nahostkonflikt-verwicklung-in-hamas-angriff-unrwa-entlaesst-mitarbeiter-566174374995
  4. www.theguardian.com/world/2023/oct/26/canwe-trust-casualty-figures-from-the-hamas-rungaza-health-ministry
  5. www.theguardian.com/commentisfree/2023/nov/29/atrocities-gaza-journalists-media
  6. theintercept.com/2024/01/12/al-jazeera-journalist-israel-gaza/
  7. www.transcend.org/tms/wp-content/uploads/2014/07/sf-israel-projects-2009-global-language-dictionary.pdf
  8. www.tagesspiegel.de/internationales/menschen-abgeschlachtet-lebendig-verbrannt-hamas-taten-erinnern-helfer-in-israel-an-geschichten-aus-dem-holocaust-10610200.html
  9. www.rts.ch/play/tv/-/video/-?urn=urn:rts:video:14517449
  10. www.youtube.com/watch?v=mc5iG3DX7ho
  11. www.amnesty.ch/de/laender/naher-osten-nordafrika/israel-besetzte-gebiete/dok/2023/bewaffnete-palaestinensische-gruppen-muessen-zur-rechenschaft-gezogen-werden
  12. www.mondoweiss.net/2023/10/a-growing-number-of-reports-indicate-israeli-forces-responsible-for-israeli-civilian-and-military-deaths-followingoctober-7-attack/
  13. www.electronicintifada.net/blogs/ali-abunimah/israel-admits-burning-hundreds-people-7-october
  14. www.thegrayzone.com/2023/10/27/israels-military-shelled-burning-tanks-helicopters/
  15. www.youtube.com/watch?v=G8PWUAtGIBo&t=14s
  16. www.youtube.com/watch?v=d0gECjlpXF8
  17. www.electronicintifada.net/blogs/asa-winstanley/israeli-hq-ordered-troops-shoot-israeli-captives-7-october
  18. https://de.wikipedia.org/wiki/Geschlechtsspezifische_und_sexuelle_Gewalt_durch_die_Hamas_w%C3%A4hrend_des_Terrorangriffs_am_7._Oktober_2023
  19. www.mondoweiss.net/2023/12/despite-lack-ofevidence-allegations-of-hamas-mass-rape-arefueling-israeli-genocide-in-gaza/
  20. www.mondoweiss.net/2024/01/family-of-key-case-in-new-york-times-october-7-sexual-violence-report-renounces-story-says-reportersmanipulated-them/
  21. www.jadaliyya.com/Details/45725/Weaponizing-Rape
  22. www.jpost.com/israel-news/article-774511
  23. www.aljazeera.com/news/2023/11/19/when-will-israeli-army-explain-inconsistencies-in-alshifa-hospital-videos
  24. www.forensic-architecture.org/investigation/destruction-of-medical-infrastructure-in-gaza/
  25. theintercept.com/2024/01/09/newspapers-israel-palestine-bias-new-york-times/
  26. www.novaramedia.com/2023/11/28/the-world-is-finally-waking-up-to-israels-information-warbut-is-it-too-late/
  27. www.tagesanzeiger.ch/andrea-studer-der-ueberraschende-abgang-der-deza-vizedirektorin-401742954750
  28. www.nzz.ch/schweiz/nahost-konflikt-aussendepartement-wehrt-sich-gegen-vorwurf-von-einer-israelischen-lobbygruppe-instrumentalisiert-worden-zu-sein-ld.1769354