Der IGH stellt fest, dass BDS nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht ist
Craig Mokhiber
Israel und seine Lobby versuchen seit Jahren, Israel von der Rechenschaftspflicht zu befreien, indem sie ihren Einfluss im Westen nutzen, um organisierte Opposition gegen Israel effektiv zu verbieten. An erster Stelle dieser Bemühungen steht die israelische Kampagne zur Sanktionierung von Aufrufen zu Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS) gegen Israel wegen dessen schweren Menschenrechtsverletzungen. So wurden in den USA und im gesamten Westen zahllose Gesetze erlassen und politische Maßnahmen verhängt, die zentrale Verfassungsgrundsätze und international garantierte Menschenrechte mit Füßen treten, um Israel vor Strafverfolgung zu schützen. Das im vergangenen Monat vom Internationalen Gerichtshof (IGH) veröffentlichte Rechtsgutachten dürfte nun dazu beitragen, dies zu ändern.
In seinem historischen Urteil stellt der IGH fest, dass die israelische Besetzung des Westjordanlands, Ostjerusalems und des Gazastreifens gänzlich unrechtmäßig ist, dass Israel Apartheid und Rassentrennung praktiziert und dass alle Staaten verpflichtet sind, dazu beizutragen, dass dieser Zustand beendet wird, unter anderem durch den Abbruch aller Wirtschafts-, Handels- und Investitionsbeziehungen mit Israel im besetzten palästinensischen Gebiet. Mit anderen Worten: Alle Länder sind völkerrechtlich verpflichtet, sich an einem Wirtschaftsboykott gegen Israels Aktivitäten im besetzten palästinensischen Gebiet zu beteiligen und sich von allen dort bestehenden Geschäftsbeziehungen zu trennen.
Da das Gericht an die Vorgaben der Fragestellung der UN-Generalversammlung gebunden war, die seinen Erkenntnissen zugrunde liegt, ging es nicht auf die Verpflichtungen im Zusammenhang mit Aktivitäten innerhalb der Grünen Linie von 1948 ein. Die verbindliche Erklärung des Gerichts zu den Erfordernissen, die sich aus dem Völkerrecht ergeben, macht jedoch deutlich, dass BDS-Befürworter:innen nicht nur moralisch legitimiert, sondern auch völkerrechtlich solid abgesichert sind.
Das Rechtsgutachten des IGH von Juli folgt auf die Einleitung eines Völkermordverfahrens gegen Israel vor dem IGH im vergangenen Dezember und auf einen Antrag des Anklägers des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) vom Mai 2024 auf Erlass von Haftbefehlen gegen den israelischen Premierminister und den israelischen Verteidigungsminister wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einschließlich Vernichtung. Zusammen stellen sie eine historische Abkehr von 76 Jahren westlich geförderter israelischer Sonderstellung und Straffreiheit dar und nähren die Hoffnung auf eine neue Ära der Rechenschaftspflicht.
Israel und seine westlichen Verbündeten, denen Komplizenschaft mit Israels Völkerrechtsverletzungen vorgeworfen wird (allen voran die USA, Großbritannien und Deutschland), haben folglich alles daran gesetzt, sich den Maßnahmen dieser Gerichte zu widersetzen, sie zu verzögern und zu behindern, indem sie in die Gerichtsverfahren eingriffen und in einigen Fällen sogar Gerichtsbeamte bedrohten. In der Tat wurde das Verfahren zur Erteilung von Haftbefehlen durch den IStGH im Vergleich zu früheren Fällen übermäßig hinausgezögert. Dennoch erging das IGH-Gutachten termingerecht wie auch kompromisslos in Hinblick auf die Anwendung des Völkerrechts auf Israel.
Israel und seine Verbündeten verbreiten zudem die Schutzbehauptung, Gutachten des IGH seien «nicht bindend» und das Gericht könne einen Staat nicht zwingen, seinen Entscheidungen nachzukommen. Diese Taktik lässt jedoch außer Acht, dass die Gesetze, auf die sich das Gericht in seiner maßgeblichen Stellungnahme bezieht, tatsächlich für alle Staaten bindend sind. So stellte das Gericht beispielsweise fest, dass das Recht der Palästinenser:innen auf Selbstbestimmung, ihre Rechte in Bezug auf die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht sowie das Verbot des gewaltsamen Gebietserwerbs durch Israel sogenannte «erga omnes»-Verpflichtungen auferlegen, d. h. verbindliche Verpflichtungen, die für alle Länder gelten.
Zu diesen Verpflichtungen gehört die Pflicht, die Besatzung in keiner Weise anzuerkennen oder zu unterstützen, und die Pflicht, Maßnahmen zu ergreifen, um die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes zu verwirklichen. Daraus folgt, dass jede Politik oder Handlung eines westlichen Landes rechtswidrig wäre, die in irgendeiner Weise die israelische Besatzung anerkennt, Israel (wirtschaftlich, militärisch, diplomatisch usw.) bei dieser Besatzung unterstützt oder seiner Gerichtsbarkeit unterstehenden Personen verbietet, das Völkerrecht zu achten, indem sie die illegale israelische Besatzung boykottieren oder Investitionen daraus zurückziehen.
Klar werden die USA, die seit Langem die zwingenden Normen des Völkerrechts ignorieren und sich seit Jahrzehnten bemühen, eine Ausnahme für Israels Straffreiheit zu etablieren, die Ergebnisse des Gerichts wohl zurückweisen und sich der Durchführungsresolution der UN-Generalversammlung widersetzen, die folgen dürfte. Einige andere westliche Staaten, die in die israelische Achse investiert haben, wie Großbritannien und Deutschland, könnten diesem Beispiel folgen. Höchstwahrscheinlich werden aber die meisten Länder, einschließlich anderer westlicher Staaten, ihre Politik anpassen, um die Einhaltung der Gesetze zu gewährleisten.
Gruppen und Einzelpersonen, die von Bestrebungen betroffen sind, BDS zu kriminalisieren oder Menschen zur Verurteilung von BDS zu nötigen, haben nun ein wichtiges neues Instrument in ihrem juristischen Arsenal, wenn sie ihre Rechte administrativ oder gerichtlich geltend machen. Sie können sich nun auf das verbindliche Urteil des Weltgerichtshofs berufen, um glaubhaft zu machen, dass die Beteiligung an Boykott, Desinvestition und Sanktionen gegen die israelische Besatzung, Kolonisierung und Apartheid nicht nur ein moralisches Gebot und ein Verfassungs- und Menschenrecht ist, sondern auch eine völkerrechtliche Verpflichtung.
Quelle www.mondoweiss.net/2024/08/the-icjfinds-that-bds-is-not-merely-a-rightbut-an-obligation, Mondoweiss, 13. August 2024.
Craig Mokhiber ist internationaler Menschenrechtsanwalt und ehemaliger hoher UN-Beamter. Er verliess die Vereinten Nationen im Oktober 2023, nachdem er einen viel beachteten Brief verfasst hatte, in dem er vor einem Völkermord in Gaza warnte, die internationale Reaktion kritisierte und einen neuen Ansatz für Palästina/Israel auf der Grundlage von Gleichheit, Menschenrechten und Völkerrecht forderte.