Gaza am Abgrund

Lisette Imboden

Es ist heute fast unmöglich, sich Gaza als einen blühenden Hafen am glitzernden Mittelmeer vorzustellen, wo im Laufe der Jahrtausende der Menschheitsgeschichte ein reicher sozioökonomischer Austausch stattfand. Dennoch war Gaza über Jahrtausende ein wichtiger Zwischenstopp auf der Landroute zwischen Afrika, Asien und Europa. Während Karawanen aus Jemen und Oman mit Weihrauch und Myrrhe Gaza erreichten, liefen mit Amphoren beladene Segelschiffe mit Getreide, Trockenfrüchten, Gemüse und Wein vom alten Hafen Anthedon aus. Seide aus dem fernen China und duftende Hölzer und Gewürze aus Indien zogen auf ihrem Weg in die griechisch-römische Welt vorbei. Gaza war ein einzigartiger Treffpunkt zwischen den Zivilisationen, Religionen und Kulturen, was zahlreiche archäologische Funde beweisen.

Auch aus späteren Zeiten gibt es genügend Berichte und auch Fotos, die das reichhaltige Leben in Palästina vor der Nakba («Katastrophe») 1947/48 dokumentieren, als ungefähr 500 palästinensische Dörfer von den israelischen Milizen zerstört, rund 750 000 Menschen vertrieben und Tausende weitere getötet wurden. Die damalige Nakba war der vorläufige Höhepunkt eines Prozesses, der mit der Balfour-Erklärung begann. Darin versprachen die Briten 1917, in Palästina die von der zionistischen Bewegung angestrebte Errichtung einer jüdischen «Heimstätte» zu erlauben. Dieser Schritt, der ohne Rücksprache mit der einheimischen palästinensischen Bevölkerung erfolgte, ebnete den Weg für den Versuch der endgültigen Auslöschung einer ganzen Gesellschaft, dessen Zeug:innen wir nun sind.

Israel hatte schon immer versucht, die Geschichte der Nakba zu verschleiern, denn deren Leugnung ermöglichte es dem Staat, den Mythos «ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land» zu verbreiten, dass also seine Staatlichkeit auf einem leeren Landstreifen entstand und nicht auf der Asche eines anderen Volkes. Doch dieser gefälschten Geschichtsschreibung wird trotz staatlicher Zensur je länger desto weniger Glauben geschenkt. Inzwischen gibt es eine nicht unwesentliche Anzahl auch israelischer Historiker:innen, die den Gründungsmythos Israels entlarven.

Nachdem Israel feststellen musste, dass trotz aller jahrzehntelanger Bemühungen, mit ethnischen Säuberungen, Massakern, Diebstahl indigenen Landes, Ausbeutung und Apartheid, die anvisierten Ziele der Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung, der vollen Kontrolle über das ganze Gebiet des historischen Palästinas und der Errichtung eines rein jüdischen Staats bislang nicht wie gewünscht erreicht werden konnten, wurde die «günstige» Gelegenheit nach den Attacken vom 7. Oktober 2023 aus Gaza dazu benutzt, zum «Endspiel» anzusetzen. Dabei ging und geht es nicht in erster Linie um die Zerstörung der Hamas und die Befreiung der israelischen Geiseln, sondern darum, den kleinen Gazastreifen und nun verstärkt auch das übrige besetzte Gebiet Palästinas in ein für die palästinensische Bevölkerung unbewohnbares Gebiet zu verwandeln und anschließend Israel einzuverleiben. Verteidigungsminister Yoav Gallant sagte es zu Beginn des Rachefeldzuges so: «Wir verhängen eine vollständige Belagerung von Gaza. Kein Strom, kein Essen, kein Wasser, kein Treibstoff. Alles ist geschlossen. Wir bekämpfen menschliche Tiere und werden entsprechend handeln.»

Diesem Motto wird seither Folge geleistet, indem fast pausenlos und systematisch dicht besiedelte städtische Gebiete, die Infrastruktur und Agrarflächen bombardiert werden. Nach über zehn Monaten des Vernichtungskriegs Israels sehen wir anstelle von ehemals mit Leben erfüllten Städten und Dörfern, von blühenden Obstgärten und Erdbeerfeldern, die einst der Stolz der Bewohner:innen Gazas waren, eine apokalyptische Landschaft, wo laut UNWRA mehr als 70 Prozent der öffentlichen Infrastruktur (Straßen, Wasserquellen, sanitäre Anlagen, Rathäuser, Universitäten, Schulen, Spitäler, Museen, archäologische Stätten, Moscheen, Kirchen, Bibliotheken, Archive, Sportstadien) sowie Industrieanlagen, Läden, private Wohngebäude, Ackerland und landwirtschaftliche Infrastruktur durch über 80 000 Tonnen Bomben beschädigt oder zerstört wurden, wo über 90 Prozent der 2,2 Millionen Menschen zählenden Bevölkerung wie Schachbrettfiguren von einem unsicheren Ort zum anderen vertrieben und in immer kleinere Landstriche gedrängt werden (bis August 2024 auf 11 Prozent des Territoriums von Gaza), wo inzwischen mehr als 40 000 Menschen, mehrheitlich Frauen, Kinder und ältere Personen sowie ganze Großfamilien, aber auch mindestens 500 Angehörige des medizinischen Personals, 132 Journalist:innen, 9000 Schüler:innen und Studierende, Professor:innen, Intellektuelle, Künstler:innen getötet sowie Hunderttausende verletzt wurden, wo noch Zehntausende Menschen unter den Trümmern begraben sind, wo über 17 000 Kinder einen oder beide Elternteile verloren haben und etwa 20 000 als vermisst gelten, wo mehr als 5000 Menschen, insbesondere Männer jeglichen Alters, darunter etwa 310 Ärzte und Pfleger, festgenommen und in die Folterlager außerhalb des Gazastreifens verschleppt wurden, wo humanitäre Hilfe anhaltend behindert wird, wo Israel die Bevölkerung im hermetisch abgeriegelten Gazastreifen bewusst dem Tod durch Hunger, Durst, Krankheiten und fehlende medizinische Versorgung aussetzt, wo die schrecklichen Lebensumstände, die Zerstörungen, die Vergiftung von Boden, Wasser, Luft durch israelische Munition, die ungeklärten Abwässer und die inzwischen etwa 330 000 Tonnen Müll auch in Zukunft katastrophale Folgen für Mensch und Umwelt haben werden.

Zahlreiche Expert:innen auch von UNO und Menschenrechtsorganisationen, Wissenschaftler:innen und Politiker:innen bezeichnen das Vorgehen Israels als Völkermord, was gemäß der UN-Völkermordkonvention von 1948 als schlimmstes aller Verbrechen gilt und u. a. Handlungen beinhaltet, die mit der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Dies ist im Gazastreifen, wie unzählige Belege nahelegen, zweifellos der Fall, auch wenn der Internationale Gerichtshof in Den Haag im Fall Südafrikas gegen Israel, dem sich inzwischen zwölf weitere Länder angeschlossen haben, in seinem vorläufigen Urteil lediglich von der plausiblen Gefahr eines Völkermords in Gaza spricht.

Der ursprünglich vom polnisch-jüdischen Anwalt Raphael Lemkin für die Beschreibung der Ermordung von Jüd:innen und anderen Gruppen durch die Nazis während des Holocausts geprägte juristische Begriff Völkermord oder Genozid ist ein im Völkerrecht definiertes Verbrechen. Dies gilt nicht bei den anderen im Gazastreifen nachgewiesenen Formen der Zerstörung der Lebensgrundlagen für Mensch und Umwelt wie Urbizid oder Domizid, Ökozid und Scholastizid. Diese stellen gemäß Genfer Konvention und Römischem Statut jedoch allesamt gravierende Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der internationalen Menschenrechte dar. Deshalb müssen die Untersuchungen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) und des Internationalen Gerichtshofs (IGH) dringend fortgesetzt und Israel schlussendlich zur Rechenschaft gezogen werden. Dies sind wir, die internationale Gemeinschaft, der palästinensischen Bevölkerung nach all dem ihr zugefügten Leid schuldig.

Vorderhand ist eine permanente Waffenruhe im Gazastreifen trotz aller ernst gemeinter, aber auch scheinheiliger Bemühungen nicht in Sicht, denn die israelischen Regierungen haben sich noch nie von den zahlreichen UN-Resolutionen sowie den Ermahnungen internationaler Gerichtshöfe und Politiker:innen beeindrucken lassen. Dies ist auch nicht verwunderlich, da die andauernden Völkerrechtsverletzungen bis anhin kaum spürbare Konsequenzen für Israel und seine Regierungsvertreter:innen hatten. Im Gegenteil, die bisherige, vor allem von den USA garantierte Straffreiheit ermöglichte es israelischen Parteien, Politiker:innen, Militärs und Siedler:innen bereits Jahre vor dem 7. Oktober 2023, mit einer zweiten Nakba, der «Vollendung der Arbeit», zu drohen und zu verlangen, dass der Gazastreifen rekolonisiert und in ein neues Singapur oder Dubai verwandelt wird. Das israelische Misgav Institute for National Security & Zionist Strategy veröffentlichte am 13. Oktober 2023 beispielsweise einen durch die Likud-Partei, Geheimdienstminister Gila Gamliel und einige US-Kongressabgeordnete unterstützten Vorschlag, die 2,2 Millionen Menschen im Gazastreifen auf die Sinai-Halbinsel zu vertreiben. Darin heißt es: «Es besteht derzeit die einmalige und seltene Gelegenheit, den gesamten Gazastreifen zu evakuieren.» Im Dezember 2023 schaltete die israelische Immobilienfirma Harey Zahav Anzeigen für zukünftige Häuser und Wohnungen am Strand von Gaza. Auch Jared Kushner, der Schwiegersohn von Donald Trump, meinte, die Uferpromenade von Gaza könne sehr wertvoll sein und er sei an der Entwicklung von Ufergrundstücken interessiert, während Israel den Gazastreifen «aufräumt».

Aber auch Regierungschef Benjamin Netanjahu selbst treibt die zionistischen Pläne mit Hochdruck weiter voran. So präsentierte er etwa im Jahr 2023 in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung eine Landkarte vom zukünftigen «Großisrael », wo der Gazastreifen, das Westjordanland und Ostjerusalem ein Teil Israels sind. Am 3. Mai 2024 stellte Netanjahu schließlich einen dreistufigen Masterplan «Gaza 2035» vor, der die «Transformation des Gazastreifens», einen «Wiederaufbau aus dem Nichts […] von der Krise zum Wohlstand » beschreibt, dessen Ziel eine «Gaza-Arish-Sderot Free Trade Zone» ist – ein «entradikalisiertes» und von der Hamas befreites Gebiet, wo den Palästinenser:innen zwar eine gewisse «Selbstverwaltung», jedoch keine eigene Staatlichkeit gewährt würde. Israel hätte das alleinige Sagen. Mit der Ausbeutung der riesigen Gas- und Erdölvorkommen vor der Küste des Gazastreifens sowie unterhalb des Westjordanlands, dem Bau von neuen Eisenbahnlinien nach Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien, der Ansiedlung von neuen Tech-Firmen, Fabriken etc. würden sich für Israel enorme wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten ergeben. Vorgeschlagen wird schließlich, dass dieses Modell auch für Jemen, Syrien und den Libanon angewendet werden könnte.

Wie kann da noch jemand behaupten, dass es keine Beweise für eine genozidale Absicht Israels gibt? Schon nur dieser erschreckende Plan sollte Beweis genug und ein endgültiger Weckruf für die Welt sein.

Es ist in unser aller Verantwortung, diesem menschenverachtenden Treiben ein sofortiges Ende zu setzen, bevor es Netanjahu auch noch gelingt, die ganze Region in einen Krieg hineinzuziehen. Dazu muss der Druck auf unsere Parlamente und Regierungen erhöht werden, damit diese einen sofortigen Waffenstillstand verlangen und die aktuellen Empfehlungen und Forderungen des UN-Menschenrechtsrats sowie des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag vom 19. Juli umsetzen. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ging mit der Beantragung von Haftbefehlen gegen Netanjahu und den israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant schon einmal mit gutem Beispiel voran.

Mit dem aktuellen Rechtsgutachten des IGH könnte sich das Blatt langsam wenden, auch wenn Israel dieses einmal mehr ignoriert. Da das Gericht die rechtlichen Verpflichtungen von Drittstaaten jedoch klar benennt, wächst der Druck, wenn sie sich nicht mitschuldig machen wollen. Es ist absehbar, dass noch mehr Länder von Waffenlieferungen an Israel absehen, sich Boykotten anschließen und Sanktionen gegen Israel verhängen sowie den diplomatischen Schutz und den Israel gewährten bevorzugten Status in Handel, Forschung, Kultur und Sport überdenken werden. Mehr und mehr multinationale Konzerne, Banken, Pensionsfonds und Universitäten könnten ihre Investitionen zurückziehen und die Zusammenarbeit aufkündigen. Für staatliche Gerichte wird es schwieriger, die Meinung des IGH zu ignorieren und Solidaritätsaktivist:innen, Boykottbewegungen und kritische Medien zu bestrafen. Auch dem IStGH können in Zukunft weniger Steine in den Weg gelegt werden, wenn er Haftbefehle gegen israelische Politiker, Militärs und Beamte ausstellen will.

Eine wichtige Hürde auf dem steinigen Weg zu Frieden und Gerechtigkeit in Palästina/Israel und zur Stärkung des Internationalen Rechts wurde nun also durch die rechtliche Absicherung des IGH, der voraussichtlich noch weitere folgen werden, eliminiert. Bis zum Erreichen des Ziels braucht es aber weiterhin unser aller Engagement und die Verstärkung des Drucks auf die Politik, wie das bereits seit Monaten Millionen von Menschen weltweit tun.