Gaza Voices

Nour Naeem

Gespräch zwischen Maha Shahwan, einer 39-jährigen Journalistin aus Gaza-Stadt, und Nour Naeem vom Projekt Gaza Voices. Das Gespräch fand am 13. April 2024 statt, zwei Wochen nach der Flucht von Maha Shahwan und ihrem Ehemann nach Ägypten.

Maha Shahwan: Ich wusste lange Zeit nichts über mein Haus. Die Leute sagten mir, es sei noch intakt, und ich schämte mich, anderen zu erzählen, dass mein Haus noch in Ordnung sei. Dann schickte mir mein Bruder Bilder, und es war völlig zerstört, bombardiert, nichts ist übriggeblieben.

Ich vermisse alles an meinem Zuhause – in der Küche zu stehen, Geschirr zu spülen, zu kochen. Ich vermisse die Tassen, die ich für Kaffee benutzt habe. Die Ecke, in der ich gewöhnlich gesessen und mein Lieblingsgemälde betrachtet habe. Jeden Morgen stand ich auf dem Balkon und sah das Meer. Ich dankte Gott dafür, dass ich es jeden Tag sehen konnte. Ich vermisse das Geräusch der Gasverkäufer. Die Kinder, die in unserem Gebäude gespielt haben.

Nour, ich habe keine Kinder. Ich habe es oft versucht, aber während des Krieges habe ich Gott erstmals gedankt, dass ich keine Kinder habe. Wenn ich Kinder gehabt hätte, wie hätte ich für ihre Windeln, Milch, ihre grundlegenden Bedürfnisse sorgen können?

Unsere Leute lieben das Leben. Gaza ist der schönste Ort der Welt, ein Paradies auf Erden. Gaza – ich bin viele Male gereist, nach Grossbritannien, Jordanien, Ägypten, Saudi-Arabien. Aber ich habe nie etwas Schöneres als Gaza gesehen. Gaza ist Leben. Um das Leben zu verstehen, musst du nach Gaza zurückkehren. Plötzlich, schlagartig, wurde alles ausgelöscht. Es gibt keine einzige Strasse mehr. Die Strassen, auf denen du gegangen bist, sind verschwunden. Unsere Erinnerungen, unsere Freunde, die Steine, mit denen alles gebaut ist. Wer sagt, dass nur die Seele wichtig ist, der irrt. Ich sage, die Steine sind genauso wichtig wie die Seele, denn die Steine bewahren unsere Erinnerungen, die Kleinigkeiten unseres Lebens.

Als ich in Ägypten ankam, dachte ich noch, ich würde Freude und Erleichterung empfinden. Aber es sind zwei Wochen vergangen und ich konnte es überhaupt nicht geniessen. Obwohl das Leben hier normal ist und die Menschen ihr Leben leben.

Ich ging in den Supermarkt. Es war nicht wie die Supermärkte in Gaza. Ich sah meine Lieblingsfrucht, Kiwi. Ich nahm die Kiwi in die Hand, fühlte sie, und liess sie liegen. Denn ich dachte an meine Familie. Mein Neffe ist zwei Jahre alt und meine Nichte ist kaum ein Jahr alt. Sie wissen nicht, wie Obst schmeckt. Stell dir vor, wir haben eine Enkelin, die dreieinhalb Jahre alt ist und für Wassermelonen und Äpfel betet! Wie kann ich Wassermelonen und Äpfel essen, wenn sie es nicht kann?

Mit der Abreise haben wir Schuldgefühle entwickelt. Immer fühlen wir uns wie Verräter. Ich habe hier eine Wohnung in einer ruhigen, schönen Anlage bekommen. Jeden Morgen wache ich auf, öffne die Balkontüre, schaue auf die Häuser und denke: Sie sind nicht zerbombt. Ich sehe Blumen und denke: Es gibt keine Blumen dort drüben, keine intakten Häuser. Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und schimpfe mit mir selbst, weil ich zwei oder drei Stunden am Stück geschlafen habe. Ich sollte nicht schlafen, während meine Mutter, mein Vater und meine Geschwister nicht schlafen! Manchmal verbringe ich in Ägypten einen ganzen Tag und esse nur eine Dattel. Selbst wenn ich Kaffee trinke, fühle ich mich wie eine Verräterin.

Alle, die abgereist sind, wissen, dass es nicht umsonst war. Wir mussten viel Geld zahlen, um wegzukommen. Man bezahlt einen erheblichen Betrag, um sein Leben zu retten; man zahlt 5000 oder 6000 Dollar. Aber an der Grenze fragte ich mich nur, wann der Krieg enden würde. Und ich sagte meinem Mann neben mir immer wieder: «Wenn sie heute Nacht verkünden, dass der Krieg vorbei ist, schwöre ich, ich werde zurückkehren.» Ich möchte zurück, ein Zelt auf den Trümmern meines Hauses aufschlagen, auf meinem Land bleiben.

Die meisten Menschen, die ich gefragt habe, würden zurückkehren. Und wenn Leute wirklich draussen bleiben wollten, Nour, dann wären sie nach Europa oder in andere Länder gegangen. Aber viele Menschen aus Gaza bleiben in Ägypten – vorübergehend. Wir alle bleiben vorübergehend. Wir wollen nach Gaza zurückkehren. Wenn ich in Al-Arisch, dem nächstgelegenen Ort, oder im ägyptischen Rafah bleiben könnte, würde ich dort bleiben und auf die Rückkehr nach Gaza warten. Auch wenn ich allein bleiben müsste. Auch wenn mein Mann nicht zurückkehren möchte, will ich zurückkehren. Selbst wenn meine Familie fortgehen möchte, werde ich zurückkehren.

Nour Naeem: Okay, natürlich denkst du, dass Gaza noch genauso ist wie früher, mit seinen Strassen und seiner ganzen Schönheit. Mit der Al-Rashid-Strasse und den Restaurants. Mit dem Hummus von Al Khuzindar und dem Falafel von Al-Sousa. All das ist jetzt verschwunden. Wenn du nach dem Krieg nach Gaza zurückkehrst, was erwartest du dort?

Maha Shahwan: Weisst du, trotz der Videos und Bilder, die ich gesehen habe, kann ich es nicht akzeptieren. Gaza, die Stadt, in der ich 37 Jahre gelebt habe und aufgewachsen bin – ich weigere mich, die Realität anzuerkennen. Ich stelle mir vor, dass ich zurückkehren und Al-Sousas Falafelladen sehen werde und alles noch da sein wird. Der Eisladen al-Amir, die Süssigkeitengeschäfte Al-Saqqa und Al-Saud, das Restaurant Zahran, unsere Strasse, das Al-Shifa-Krankenhaus. Der Ort, an dem ich immer meine beste Freundin getroffen habe. Alles wird da sein. Ich kann den Bildern nicht glauben. In meiner Vorstellung bleibt Gaza unverändert, selbst wenn die Bilder echt sind. Ich sage, Gaza wird sich wieder erholen, es wird wie ein Phönix aus der Asche auferstehen. Das ist Gaza.

Du hast mich gefragt, ob ich eine besondere Erinnerung habe. Einen Tag vor dem Krieg war ich zu einer Hochzeit eingeladen. Ich besuche selten Hochzeiten, und wenn ich es tue, bleibe ich höchstens 15 Minuten, grüsse alle und gehe wieder. Doch bei dieser Hochzeit bin ich drei Stunden geblieben, Nour, ganze drei Stunden! Bis etwa 22.30 Uhr. Ich habe mitgefeiert, getanzt, obwohl meine Beziehung zum Brautpaar distanziert ist. Ich habe mit Menschen getanzt, die ich kaum kannte.

Um 22.30 Uhr schlug mein Mann vor, ins Restaurant neben der Hochzeitsfeier zu gehen, um eine Pizza oder sonst was zu essen. Während wir dort Kaffee tranken, sagte ich ihm, dass Gaza traurig sei, alt wie eine alte Frau. Er fragte, warum ich so etwas sage, und ich antwortete, dass Gaza wie eine grauhaarige, runzlige alte Frau aussehe. Ich weiss nicht, warum ich das gesagt habe, Nour. Wir sind gegen ein Uhr nachts nach Hause gekommen. Ich habe hysterisch gelacht, ich weiss nicht, warum. Dann bin ich eingeschlafen und in einem Albtraum aufgewacht, der bis heute andauert.


Gespräch zwischen Abeer Antar, einer 26-jährigen Palästinenserin, und Nour Naeem. Abeer Antar lebte bei Kriegsbeginn in Gaza und ist unterdessen nach Ägypten geflohen. Das Gespräch fand am 7. März 2024 statt.

Abeer Antar: Zunächst einmal, der 7. Oktober war wirklich beängstigend. Wir waren am Schlafen. Am Samstag hatte mein Mann frei, daher waren wir die ganze Nacht davor aufgeblieben. Plötzlich wachte ich auf und sah Raketen! Ich weckte meinen Mann und sagte ihm: «Schau, was um uns herum passiert!» Wir blieben so mehr als zwei Stunden, wussten nicht, ob es Raketentests waren oder ein Kriegsmanöver. Wir verstanden nichts, bis wir realisierten, dass Krieg war. Da sagten wir: «Das ist das Ende. Das wird uns alle aus Gaza vertreiben.»

Wir haben erwartet, dass dieser Krieg hart sein würde. Besonders, da der 7. Oktober so überraschend war. Es war ein Schock für uns und für Israel. Also haben wir schon erwartet, dass es brutal sein würde. Aber ehrlich gesagt, haben wir nicht erwartet, dass es länger als 100 Tage dauern würde. Wir dachten, es würde höchstens wie der Krieg von 2014 sein, der nur 51 Tage gedauert hatte. Nicht 150 Tage.

Der Wendepunkt kam am 9. Oktober, dem Tag, an dem der Krieg begann. Da wurde von Israel die erste Karte veröffentlicht, mit der Aufforderung, den Abu-Al- Kass-Platz und das Al-Rimal-Gebiet zu evakuieren und in Gebiete zu gehen, die sie als sicher bezeichneten. Natürlich sind sie nicht sicher! Wir alle wissen, dass kein Ort in Gaza sicher ist! Wir waren im ersten Wohngebiet, das evakuiert werden sollte. Also verstanden wir nicht, ob wir innerhalb oder ausserhalb der Karte waren. Und wenn wir diesen Ort verlassen wollten, wohin sollten wir gehen?

Ehrlich gesagt, werden viele beim Thema Gaza emotional und sensibel und sagen immer wieder, dass es sicherlich wieder aufgebaut wird und noch schöner sein wird als zuvor. Nach jedem Krieg wird es wieder aufgebaut und noch schöner. Aber leider ist es bei diesem Krieg an der Zeit, Emotionen beiseitezulegen und logisch zu denken. Leider wissen wir alle, dass es keinen Wiederaufbau gibt, solange dieselbe Macht weiter regiert, und dieser Ort verwüstet bleiben wird.

Für den Wiederaufbau können wir nur auf ein göttliches Wunder hoffen. Aber wenn wir logisch denken – es wird Jahre dauern, um den Schutt und die ganzen Trümmer zu entfernen, die sich angesammelt haben. Ich habe meinem Mann sogar kürzlich gesagt, dass er, wenn der Krieg endet und er zur Arbeit dorthin zurückkehrt, alleine zurückgehen soll und ich später nachkommen werde. Ich kann nicht gehen und über Körper auf den Strassen stolpern. Die Situation ist sehr schwer. Es wird Jahrzehnte dauern, um die Infrastruktur Gazas wiederherzustellen.

Die wahre Nakba für Palästina war für mich nicht 1948. Die wahre Nakba ist dieses Jahr. Es ist unfassbar.

Nour Naeem: Abeer, was ist deine abschliessende Botschaft an die Welt oder an diejenigen, die dieses Gespräch hören? Was möchtest du uns sagen? Was sind deine Wünsche für die Zukunft?

Zunächst möchte ich all den Menschen danken, die uns seit dem 7. Oktober bis heute unterstützt haben, die nicht müde geworden sind und nicht aufgegeben haben. Denn leider sind wir müde, und unsere Energie ist fast am Ende.

Zweitens möchte ich der Welt vermitteln, dass wir keine Superhelden sind. Am Ende werden wir genauso müde wie ihr.

Die Vorstellung von Geduld und Widerstandsfähigkeit, dass wir ein starkes Volk oder legendär sind – es ist schön, gelobt zu werden. Doch leider hat dies dazu geführt, dass wir Dinge ertragen müssen, die weit über unsere Kapazitäten hinausgehen. Bedauerlicherweise haben wir immer mehr Lasten getragen, die unsere Grenzen überschreiten.

Was im Norden passiert – Skelette vor uns zu sehen und keine menschlichen Wesen, Menschen, die Tierfutter oder Katzen essen, Blätter von den Bäumen pflücken – die voller Phosphor [von den Bomben] sind – und sie essen. Das hat nichts mit einem geduldigen oder standhaften Volk zu tun, sondern mit einem Volk, das gezwungen ist, unter diesen Umständen zu leben.

Wir müssen erkennen, dass wir hinter der Sache stehen und viel dafür aushalten, aber auch, dass wir nicht über unsere Grenzen hinaus belastet werden können. Denn ehrlich, wir tragen mehr, als wir können. Wir werden das Trauma für immer in uns tragen. Als ich nach Ägypten kam, lebte ich zunächst in der Nähe des Flughafens. Jedes Mal, wenn ich ein Flugzeug hörte, geriet ich in Panik. Ich hatte Angst, weil dieses Trauma uns leider ein Leben lang begleiten wird. Jedes Mal, wenn ich etwas zerbrechen oder knallen höre, bekomme ich Angst.

Auf jeden Fall danke ich allen, die uns beigestanden sind. Die Vorstellung von übermenschlicher Widerstandsfähigkeit und Geduld ist am Ende nicht real, denn wir sind alle nur Menschen. Meine grösste Hoffnung ist, dass der Krieg bald endet und wir uns um all unsere Lieben keine Sorgen mehr machen müssen. Das ist das Wichtigste.


Gespräch zwischen Alaa Qassem, einer 29-jährigen Social Media Content Creator aus Deir al-Balah, und Nour Naeem. Alaa Qassem wurde zusammen mit ihrem Vater aus Gaza nach Katar evakuiert. Das Gespräch fand am 17. Mai 2024 statt.

Alaa Qassem: Ich war in der Mitte des Gazastreifens in Deir al-Balah, als der Krieg begann. Einige glauben, dass es sich um ein sicheres Gebiet handelt, wie es die Besatzungsmacht behauptet. Aber seit Beginn des Krieges ist das Gebiet, in dem ich wohne, eine militärische Zielzone. Fast jeden Tag wird dieses Gebiet bombardiert, auch unser Haus wurde bombardiert.

Unsere Gegend ist ein gefährliches Gebiet, aber niemand hat es verlassen. Alle sind in ihren Häusern geblieben, und niemand wusste, ob wir bombardiert werden sollen oder nicht. Niemand hat uns informiert, dass wir weggehen sollen, weil es sich nicht um eines der Gebiete handelt, in dem die Besatzungsmacht die Evakuierung angeordnet hat. Aber Deir al-Balah ist eines der Gebiete, in das die Besatzung die Menschen schickt und das sie als sicher einstuft. Aber sobald die Menschen dorthin gehen, beginnen die Bombardierungen und Angriffe. Wo sind also die sicheren Gebiete, von denen sie sprechen?

Nour Naeem: Okay Alaa, erzähl uns jetzt vom 12. Januar und dem grossen Schock für dich. Was ist an diesem Tag geschehen?

Alaa Qassem: Der 12. Januar war ein Freitag. Der Freitag ist für die Bewohner:innen des Gazastreifens der Tag, an dem man als Familie zusammenkommt, ob nun Krieg ist oder nicht. Die Familie versammelt sich zum Frühstück und zum Mittagessen. Wir sind morgens aufgewacht und haben unseren Tag wie jeden anderen Tag auch verbracht. Wir haben uns zum Frühstück getroffen und beiläufig darüber gesprochen, was wir an diesem Tag kochen sollten. Meine Mutter hat vorgeschlagen, Makkaroni Béchamel zu kochen. Denn wie durch ein Wunder waren die Zutaten dafür wieder verfügbar, nachdem sie lange Zeit vergriffen waren. Viele Lebensmittel in Gaza sind nicht immer verfügbar und wenn, dann sind sie teuer. An diesem Tag konnte man die Zutaten für die Makkaroni Béchamel – Milch, Nudeln usw. – aber kaufen, und so hat meine Mutter vorgeschlagen, dieses Gericht zu kochen.

Meine Brüder, möge Gott ihnen gnädig sein, haben ihre üblichen Tätigkeiten in Kriegszeiten verrichtet: Wasser abfüllen, es zu den Speichern auf den Dächern bringen und sich in die Warteschlange für Brot stellen – all die Routineaufgaben, die im Krieg anfallen. An diesem Tag waren sie früh fertig, um 10 Uhr. Wir haben mit der Zubereitung des Mittagessens begonnen. Zwischen 10 und 11.45 Uhr war ich mit meiner Mutter und meinen Schwestern in der Küche. Während dieser Zeit befanden sich meine Brüder an ihren gewohnten Plätzen im Haus und lebten ihr normales Leben – einer telefonierte, ein anderer schaute eine Serie.

Meine Mutter und meine beiden Schwestern schoben das Essen in den Ofen und meine Mutter ging zum Mittagsgebet, denn es war Freitag. Während meine Mutter betete, blieb ich in der Küche. Dann passierte die Explosion.

Ich weiss nicht, was genau passiert ist. Ich habe das Geräusch der Explosion nicht gehört, ich habe nur gesehen, wie plötzlich Feuer ausbrach. Ihr wisst ja, wie es ist, wenn man einen Gasherd anmacht. Das Gas entzündet sich, es flackert plötzlich auf. Aber es war viel intensiver als das. Das Feuer und die Luft um das Feuer waren extrem heiss. Ich hatte das Gefühl, als würde meine Haut verbrennen. Die Wucht der Hitze warf mich zurück, aber glücklicherweise, oder unglücklicherweise, ich weiss es nicht, war ich nicht bei meiner Familie und habe überlebt. Ich wurde ins Haus geschleudert, nicht nach draussen. Meine Familie – meine Mutter, meine Schwestern Arwa und Haya, mein Bruder Muhammad und meine Tante Aisha, Gott sei ihnen gnädig – wurden alle aus dem Haus geschleudert, während ich ins Haus geschleudert wurde und an einer entfernten Stelle der Küche landete. Ich wurde unter den Steintrümmern begraben. Ich spürte, wie die Trümmer auf mich fielen, und ich wurde unter den Steinen und allem anderen begraben.

Ich konnte nichts mehr hören. Ich spürte einen starken Druck auf mir, und alles wurde sehr dunkel. Ich konnte nicht atmen; ich fing an, den Schutt und die Steine zu schlucken, weil ich nicht richtig atmen konnte. Ich habe versucht, herauszukommen, aber der Druck war zu stark.

Ich habe meine beiden Schwestern, meine Mutter und meine Tante verloren. Ich war unter den Trümmern, bis Leute kamen, um nach uns zu suchen. Während ich unter den Trümmern lag, hatte ich das Gefühl, dass der Geist meiner Mutter neben mir war, als würde sie sich verabschieden. Instinktiv sagte ich: «Möge Gott dir gnädig sein, Mama.» Ich war mir nicht sicher, ob sie schon gestorben war, aber ich hatte das Gefühl, dass sie es war.

Ich begann, die Schahada (muslimisches Glaubensbekenntnis) zu rezitieren, weil ich das Gefühl hatte, zu ersticken und keine Luft mehr zu bekommen.

Sie fanden mich unter den Trümmern. Sie waren sich nicht sicher, ob ich im Haus war oder bei den anderen, die nach draussen geschleudert worden waren. Sie hatten die Suche schon fast aufgegeben. Aber einer der Retter sah die Ferse meines Fusses und meldete den anderen, dass noch jemand im Haus war. Er begann zu rufen: «Du, du, kannst du uns hören? Bist du am Leben?» Denn von mir war nichts zu sehen. Ich schaffte es, meine Hand ein wenig zu bewegen, und klopfte zweimal, als wollte ich sagen: «Ich bin hier.» Sie begannen mich auszugraben und ich wünschte, sie hätten es nicht getan.

Nour Naeem: Dein Vater hat überlebt, schwer verletzt, konnte aber nicht in Gaza behandelt werden. Deshalb habt ihr einen Ausreiseantrag für ihn gestellt. Wie war es für dich, Gaza zu verlassen und nach Katar zu gehen, um deinen Vater zu seiner Behandlung zu begleiten? Vor allem, da du noch nicht weisst, ob du jemals zurückkehren kannst?

Alaa Qassem: Ich habe Gaza mit Tränen in den Augen verlassen. Manchmal scherze ich mit meinem Vater und sage ihm: «Du schuldest mir was dafür.» Ich sage ihm immer wieder, lachend, dass wir nur wegen ihm das Land verlassen mussten. Aber das ist nur ein Scherz; in Wirklichkeit waren wir gezwungen, Gaza zu verlassen.

Aber ich schwöre bei Gott, ich habe Gaza zwar verlassen, aber Gaza hat uns nie verlassen. Man kriegt es nicht aus unseren Köpfen.

Es gibt viele Menschen, die sagen, dass sie nur beten können, weil sie sich machtlos fühlen, etwas anderes zu tun. Aber die Menschen, vor allem die ausserhalb des Gazastreifens, können mehr tun, als nur zu beten. Ihre Gebete sind sicherlich wichtig, und Gott wird alle Gebete erhören, aber sie können auch aktiv werden. Zum Beispiel Produkte boykottieren, die dieses System unterstützen. Boykottiert alles, was den Unterdrücker unterstützt.

Euer Geld unterstützt Raketen, die auf das Volk geworfen werden, für das ihr betet. Während ihr für uns betet, unterstützt ihr gleichzeitig das Wirtschaftsgebilde, das noch mächtigere und zerstörerische Raketen auf uns abschiesst. Abgesehen vom Beten sollten alle möglichen Massnahmen ergriffen werden. Demonstrationen und jede noch so kleine Aktion, die ihr unternehmen könnt – all das ist wirkungsvoll und macht einen Unterschied für die Menschen in Gaza. Selbst ein einfaches Wort, das an die Welt gerichtet wird, kann eine bedeutende Wirkung auf uns haben.


Nour Naeem ist Journalistin aus Gaza-Stadt. Sie und ihre Familie sind im Dezember 2023 aus Gaza geflüchtet. Sie befindet sich derzeit in Ägypten und ist von dort aus dem Gaza Voices Project beigetreten.


Gaza Voices ist eine kleine, international verteilte Gruppe von Freund:innen und Aktivist:innen, grösstenteils in Berlin. Sie wurde als Reaktion auf die seit Oktober 2023 anhaltende Belagerung und Bombardierung von Gaza ins Leben gerufen. Gaza Voices sammelt Zeugnisse von denjenigen, die derzeit unter grausamen und zunehmend lebensbedrohlichen Bedingungen in Gaza leben. Gaza Voices führt auch Interviews mit Menschen, die zu Kriegsbeginn in Gaza gelebt haben, das Gebiet seither aber aus diversen Gründen verlassen haben.

Alle Interviews werden in einem Online-Archiv veröffentlicht: www.gaza-voices.com


Der Gaza Voices Podcast präsentiert einige der (englischen) Interviews, in bearbeiteter Form und ergänzt durch zusätzlichen Kontext. Diese monatlichen Folgen werden auf Radio Refuge Worldwide ausgestrahlt und sind auch auf Spotify verfügbar: www.open.spotify.com/show/0IjFiGmbIZOHtnV51famaS?


Palestine Deep Dive
Eine weitere wichtige Informationsquelle ist das 2019 vom Journalisten Ahmed Alnaouq mitbegründete Medienportal www.palestinedeepdive.com
Palestine Deep Dive hat den Anspruch, durch vertiefte Analysen, das Erzählen von Geschichten und persönliche Erzählungen die palästinensische Realität dem westlichen Publikum nahezubringen, und hofft, damit auch eine neue Generation palästinensischer Talente zu fördern und zu stärken. Auf der Plattform kommen auch eine Reihe von wichtigen prominenten Stimmen aus zu zu Palästina zu Wort.