Geschichte von Gaza

Agnes Küng

Von der Antike bis zum britischen Völkerbundsmandat für Palästina

östlichen Mittelmeer und an der Schnittstelle zwischen Afrika, Asien und Europa eine bedeutende Rolle und erlebte im Lauf der Jahrhunderte unterschiedliche Kulturen, was sich in der heutigen Bevölkerung spiegelt. Gazas wichtiger Seehafen als Endpunkt der Weihrauchund Gewürzhandelsrouten von Jemen her, der Güterund Personenverkehr an der ehemaligen Karawanenroute zwischen Ägypten und Syrien und seine fruchtbaren Oasen garantierten eine florierende Wirtschaft und Gesellschaft.
Im Jahr 1517 erobern osmanische Truppen die Region, ab dem 19. Jahrhundert wird das Gebiet kulturell jedoch vom benachbarten Ägypten dominiert. Truppen des britischen Empire greifen 1917 Gaza an und erobern die Stadt, die inzwischen in ein Trümmerfeld verwandelt ist, von den Osmanen. Nach deren Niederlage im Ersten Weltkrieg gehört das Gebiet seit 1920 zum britischen Völkerbundsmandat für Palästina. In den 1930er- und 1940er-Jahren erlebt es eine starke wirtschaftliche Expansion.

Nakba 1948 – Ägyptische Kontrolle bis 1967

Nach Ausrufung des Staates Israel und dem Ende des arabisch-israelischen Kriegs, in dem das israelische Militär auch 29 Dörfer im Süden des historischen Palästinas bombardiert, übernimmt Ägypten die Kontrolle über den später so genannten Gazastreifen. Zehntausende der über 750 000 palästinensischen Flüchtlinge (80 % der Bevölkerung), die während der Nakba von Israel aus ihren Städten und Dörfern vertrieben worden sind, suchen hier Zuflucht, wodurch sich die Bevölkerungszahl verdreifacht. Am Ende des Krieges leben 25 Prozent der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen, obwohl dieser nur ein Prozent des ursprünglichen Mandatsgebiets ausmacht. Bis 1967 untersteht der Landstrich mehrheitlich einem ägyptischem Militärgouvernement, wird jedoch nicht annektiert.
Im Laufe der Suezkrise 1956, in der Ägypten die mehrheitlich britisch-französische Suezkanal-Gesellschaft verstaatlichen will, um sich aus der britischen Einflusssphäre zu befreien, wird der Gazastreifen von israelischen und französischen Streitkräften bombardiert. In den Städten Rafah und Khan Younis kommt es zu schweren Massakern an der Zivilbevölkerung mit mehreren Hundert Todesopfern.

Unter israelischer Besatzung ab 1967 – Wirtschaftliche De-Entwicklung

seinen arabischen Nachbarn 1967 gerät der Gazastreifen unter israelische Militärbesatzung. Unter dem damaligen Chef des israelischen Südkommandos, Ariel Scharon, werden Dutzende Palästinenser:innen, die im Verdacht stehen, Mitglieder des Widerstands zu sein, ohne Gerichtsverfahren hingerichtet. Weitere systematische Menschenrechtsverletzungen sind die Vertreibung von Menschen von ihrem Land, die Zerstörung von Häusern und archäologischen Stätten sowie die Unterdrückung selbst gewaltloser Formen politischer Meinungsäusserung.

Auf etwa 35 Prozent der Landfläche des Gazastreifens werden Pufferzonen und ab den 70er-Jahren israelische Siedlungen mit einem eigenen von Israel her zugänglichen Strassensystem errichtet. Dort leben rund 8000 bewaffnete Siedler:innen, für die palästinensische Bevölkerung sind sie unzugänglich. In einer Sitzung des israelischen Sicherheitskabinetts macht der damalige Premierminister Levi Eshkol schon damals den Vorschlag, die Menschen von Gaza zu vertreiben, indem ihnen der Zugang zu ihrem Land und zur Wasserversorgung beschränkt wird.

Auf dem nun «Verlassenes Land» genannten israelischen Boden östlich des Gazastreifens werden auf den Ruinen der ehemals palästinensischen Dörfer eine Reihe von Militärbasen errichtet, die sich mit der Zeit in zivile Städte und Dörfer, in der Regel Kibbutzim mit eigenen bewaffneten Sicherheitsteams, entwickeln.

Da Israels Landwirtschaft und Fabriken viele billige Arbeitskräfte benötigen, werden Tausende von Arbeitsbewilligungen an die Bewohner:innen des Gazastreifens ausgestellt. Die höheren Einnahmen daraus tragen von 1967 bis 1982 zu einem Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 9,7 Prozent pro Jahr bei. Die Beschlagnahmung von etwa einem Drittel des Landes im Gazastreifen für die Errichtung des Grenzzauns und der Pufferzonen, der Wettbewerb um die knappen Wasserressourcen und das Verbot der lukrativen Anpflanzung neuer Zitrusbäume beeinträchtigen den palästinensischen Agrarsektor jedoch massgeblich. Viele Bauern müssen den Betrieb aufgeben. Zusätzlich sind Gazas direkte Agrarexporte für westliche Märkte nur über israelische Zwischenhändler:innen erlaubt. Für alle aus dem Gazastreifen exportierten Waren führt Israel Quoten ein und hebt gleichzeitig die Beschränkungen für den Fluss israelischer Waren in den Gazastreifen auf. Sara Roy charakterisiert diese Politik als ein Muster gezielter struktureller De-Entwicklung.

Widerstand, Massaker, Zwangsumsiedlung

Gegen diese massiven Einschränkungen regt sich bewaffneter Widerstand, der zwischen 1969 und 1971 seinen Höhepunkt erreicht und von den israelischen Streitkräften weitgehend niedergeschlagen wird. Ganze Familien werden von Kommandos ermordet, ihre Häuser zerstört, Verdächtige und deren Angehörige sowie arbeitslose Jugendliche mit Bussen in Lager in der Wüste gebracht und ein Jahr lang festgehalten. Das IKRK hat deren Behandlung als «gnadenlos» bezeichnet. Ziel ist es, andere Familien davon abzubringen, ihren Söhnen den Beitritt zu einer Widerstandsgruppe zu gestatten. Palästinensische Widerstandskämpfer attackieren aber auch eigene Landsleute, die für israelische Unternehmen arbeiten.

Die israelische Besatzung versucht 1971 die hohe Konzentration palästinensischer Flüchtlinge in einigen Flüchtlingslagern zu minimieren und errichtet neue Wohnbezirke. Die UNWRA und die PLO lehnen den Umzug jedoch ab, da sie ihn als illegale Zwangsumsiedlung betrachten.

Jom-Kippur-Krieg 1973 – Erste Intifada 1987–1993

Mit dem Jom-Kippur-Krieg und der in diesem Zusammenhang in grossem Umfang stattfindenden Beschlagnahmung von palästinensischem Land durch Israel im Westjordanland nehmen die Konflikte zwischen den Palästinenser:innen und den israelischen Behörden trotz internationaler Bemühungen (u.a. Camp-David- Abkommen I) weiter zu. Das mündet zwischen 1987 und 1993 in die erste Intifada, eine breite Volksbewegung gegen die Besatzung, sowie zur Gründung der Hamas. Der Aufstand wird von der israelischen Armee blutig niedergeschlagen, Gaza wird ab Januar 1991 zunehmend isoliert, die palästinensischen Arbeitskräfte werden schrittweise durch ausländische Migrant:innen ersetzt. Die Bewegungsfreiheit wird immer mehr eingeschränkt, was massive Auswirkungen auf Arbeit, Familienleben, Studium, Gesundheit, Bautätigkeit und Freizeit hat. Die Wirtschaft im Gazastreifen wird zerstört, die ohnehin schon äusserst schwierigen Lebensumstände verschärfen sich weiter.

Beschränkte Selbstverwaltung ab 1993 und Beginn der Abriegelung 1994

Seit dem ersten von Israel und der PLO unterzeichneten Oslo-Abkommen 1993 sowie dem Gaza-Jericho-Abkommen 1994, das zur Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) führt und eine begrenzte Verwaltungskontrolle über das Westjordanland und den Gazastreifen garantieren soll, wird der Gazastreifen mit Ausnahme der israelischen Siedlungen und Militärgebiete von der PA verwaltet. Die Kontrolle über Luftraum, Landgrenzen (ausser zu Ägypten) und Hoheitsgewässer behält Israel.

1994 beginnt Israel mit dem Bau des ersten, 60 Kilometer langen Grenzzauns sowie der Einrichtung einer ein Kilometer breiten Pufferzone auf dem Boden des Gazastreifens, was palästinensische Widerstandskämpfer daran hindern soll, sich der Grenze zu nähern. Diese Abriegelung stösst bei der Bevölkerung auf Widerstand. Der Zaun wird zu Beginn der Zweiten Intifada im Jahr 2000 grösstenteils niedergerissen, bald darauf von Israel aber wieder errichtet, auf sieben Meter erhöht, mit Wachtürmen, Stacheldraht und ferngesteuerten Maschinengewehren versehen sowie mit technologischen Sicherheits- und Überwachungssystemen verstärkt. Die israelischen Soldat:innen erhalten die Erlaubnis, auf jede Person zu schiessen, die sich dem Grenzzaun nähert. In der Folge beginnen palästinensische Widerstandskämpfer, Qassam-Raketen und Mörsergranaten über die Grenze abzufeuern. Nach einer Reihe von palästinensischen Selbstmordanschlägen in Israel wird Benjamin Netanjahu 1996 erstmals israelischer Regierungschef.

Scharons «Abkoppelungsplan», Unterstützung der USA

Zwischen 2000 und 2005 findet die zweite Intifada statt, ausgelöst durch den Besuch des damaligen Oppositionspolitikers Ariel Scharon auf dem unter palästinensischer Verwaltung stehenden Tempelberg in Jerusalem. Heftige Unruhen und Anschläge fordern Tausende Todesopfer auf beiden Seiten. 2004 legt Scharon, inzwischen Regierungschef, den sog. Abkoppelungsplan vor, der vorsieht, die Siedlungen in Gaza aufzugeben, während die sechs grössten Siedlungen im Westjordanland mit etwa 220 000 Israelis dauerhaft beibehalten werden sollen. Zudem sollen die Sperranlagen weiter ausgebaut werden, um eine Trennung zwischen Israelis und Palästinenser:innen vorzubereiten und gleichzeitig die internationalen Friedensbemühungen zu sabotieren. Noch während Scharon gegenüber der Bush-Regierung Lippenbekenntnisse zur Zweistaatenlösung abgibt, sagt sein leitender Berater Dov Weisglass gegenüber der Zeitung Haaretz unverblümt, der Rückzugsplan bedeute «ein Einfrieren des Friedensprozesses … Und wenn man diesen Prozess einfriert, verhindert man die Gründung eines palästinensischen Staates und damit eine Diskussion über die Flüchtlinge, die Grenzen und Jerusalem.»

Die USA begrüssen den Abkoppelungsplan als historisch, obwohl darin ausdrücklich die Absicht Israels zum Ausdruck gebracht wird, die volle Kontrolle über Gaza zu behalten und dort nach Belieben militärische Operationen durchführen zu können. Die Palästinenser: innen werden in den ganzen Prozess nicht einbezogen und lehnen ihn mehrheitlich ab, weil sie die zunehmende Kontrolle und Abriegelung des Gazastreifens befürchten. Der Plan erhält nach innenpolitischen Kontroversen schliesslich die Zustimmung des israelischen Parlaments. Dabei hilft die Zusicherung der USA, dass eine Rückkehr von palästinensischen Flüchtlingen nun unmöglich sei und Israel generell Siedlungen ausserhalb der Waffenstillstandslinie von 1949, der grünen Linie, behalten könne. Damit setzt sich Scharons Idee durch, Gaza als geografische und administrative Einheit vom restlichen palästinensischen Kollektiv zu trennen und damit einen unabhängigen Staat zu verhindern.

Nach zwei israelischen Strafaktionen («Operation Regenbogen», «Operation Tag der Busse») im Jahr 2004 beginnt Israel am 15. August 2005, den einseitigen Abkoppelungsplan umzusetzen. Die Streitkräfte werden 22 aus dem Gazastreifen abgezogen, 21 israelische Siedlungen geräumt und zerstört sowie die gemeinsame israelisch-palästinensische Industriezone Erez aufgehoben. Was in Israel verklärt als «Zugeständnis» beschrieben wird, verschleiert die Tatsache, dass Israel faktisch weiterhin die Kontrolle über das Gebiet inklusive des Bevölkerungsregisters (Identitätsausweise) ausübt und nach internationalem Recht nach wie vor als Besatzungsmacht gilt. Gleichzeitig schiebt es die Schuld für alle Probleme des Gazastreifens den Palästinenser: innen, also der Hamas, zu.

Im Norden des seither hermetisch abgeriegelten Gebiets richtet Israel auf dem Boden des Gazastreifens eine weitere 2,5 Kilometer breite militärische Sperrzone ein.

Zwar verbessert sich die Bewegungsfreiheit im Inneren, die vorher durch Kontrollpunkte und Strassensperren der israelischen Armee erschwert war. Die Bewegungsfreiheit von Menschen oder Gütern in oder aus dem Gazastreifen ist hingegen, wenn überhaupt, nur nach Überwindung zahlreicher Hürden gewährleistet. Auch in Bezug auf Trinkwasser, Strom, Telekommunikation und andere Versorgungsleistungen ist der Gazastreifen von Israel abhängig. Aufgrund der Pufferzonen ist ein grosser Teil des Territoriums gesperrt und es kann dort weder Landwirtschaft betrieben noch gebaut werden. Die Auswirkungen dieser extremen Besatzungssituation auf Gesellschaft, Wirtschaft, Gesundheit, Umwelt, Bildung und Beschäftigung sind enorm und verursachen eine humanitäre Krise, die auch an den immensen Unterschieden des Pro-Kopf-Einkommens auf beiden Seiten des Grenzzauns (in Israel ca. 44 Mal höher) und der Bevölkerungsdichte ersichtlich ist.

Politische Vertretung ab 2006, Hamas gewinnt Wahlen

Bei den palästinensischen Parlamentswahlen am 25. Januar 2006 gewinnt die Hamas die absolute Mehrheit, was zum erneuten Aufflammen der Spannungen zwischen der Hamas und der Fatah sowie zur Einstellung der Finanzhilfen der USA und der EU an die PA führt. Zudem hält Israel Steuereinnahmen zurück. Es erklärt den Gazastreifen endgültig zum Sperrgebiet, schliesst alle Grenzübergänge und verhängt beispielslose Sanktionen gegen die Hamas-geführte Regierung, darunter weitere Beschränkungen der Einfuhr von Nahrungsmitteln, Baumaterial und Treibstoff sowie der Bewegungsfreiheit aus und in den Gazastreifen. Der Bevölkerung fehlt es sogar an Trinkwasser und sanitären Einrichtungen, tägliche Stromausfälle von bis zu 18 Stunden sind nicht ungewöhnlich. Nötige medizinische Behandlungen ausserhalb des Gazastreifens und Auslandsstipendien werden vielfach verunmöglicht.

Grundsatzerklärungen und Versöhnungsdokumente

Am 19. März 2005 unterzeichnen zwölf palästinensische Fraktionen, darunter Fatah, Hamas, Islamischer Jihad, Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) die Palästinensische Erklärung von Kairo. Diese bekräftigt den Status der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) als einzige legitime Vertreterin des palästinensischen Volks. Die Erklärung impliziert einerseits eine Reform der PLO durch die Aufnahme von Hamas und Islamischem Jihad und demonstriert andererseits Einheit gegenüber der israelischen Besatzung. Sie ruft zur Vermeidung weiterer gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen den palästinensischen Gruppen auf.

Im Mai 2006 unterzeichnen Führer von fünf palästinensischen Fraktionen in einem israelischen Gefängnis, darunter Fatah und Hamas, ein nationales Versöhnungsdokument, das sogenannte Gefangenendokument. Es soll alle Fraktionen in ihrem Kampf gegen die israelische Besatzung vereinen und einer Regierung der nationalen Einheit den Weg bahnen. Die Vision ist ein unabhängiger palästinensischer Staat innerhalb der Grenzen von 1967 mit Jerusalem als Hauptstadt.

Am 11. September 2006 wird eine Vereinbarung zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit unterzeichnet, die auf dem überarbeiteten Gefangenendokument basiert. Darin erkennt die Hamas erstmals die Friedensabkommen zwischen der PLO und Israel an und stimmt dem Ziel zu, in den besetzten Gebieten einen palästinensischen Staat zu errichten sowie einen langfristigen Waffenstillstand mit Israel einzuhalten. Eine Anerkennung Israels wird hingegen weiter strikt abgelehnt, da dies die Akzeptanz der «zionistischen Besetzung Palästinas» und der Vertreibung von mehr als 700 000 Palästinenser:innen während der Nakba 1948 bedeuten würde. Unter massivem Druck von aussen erklärt Präsident Mahmud Abbas die Einheitsbemühungen, die er selbst ebenfalls nicht befürwortet, für gescheitert. Nach weiteren Anläufen zu einer politischen Einigung, unterbrochen von gewaltsamen Konfrontationen zwischen den Fraktionen, die mehrere Hundert Todesopfer und Verletzte fordern, setzt sich im Gazastreifen die Hamas als Regierungspartei durch. Israel beschränkt daraufhin die Importe auf wenige elementarste Grundnahrungsmitteln und Dinge des täglichen Bedarfs und unterbindet Exporte und den Personenverkehr nahezu vollständig.

Zweiteilung der palästinensischen Gebiete, Spirale der Gewalt

Seither sind die Palästinensergebiete nicht nur geografisch, sondern auch politisch zweigeteilt: Im Westjordanland herrscht die PA unter Präsident Abbas, im Gazastreifen die Hamas. Beide betrachten sich als die wahren Vertreter des palästinensischen Volkes. Die Abriegelung behindert Studierende, Fachkräfte, Patient: innen, Geschäftsleute, Familien daran, ihren Tätigkeiten grenzüberschreitend nachzugehen. Dies stellt eine beispiellose Form der kollektiven Bestrafung dar und ist ein krasser Verstoss gegen das humanitäre Völkerrecht. Im Januar 2008 erstellt die israelische Militärverwaltung eine Liste, in der der Grundbedarf für die Bevölkerung in Gaza abgeschätzt wird. Der durchschnittliche Tagesbedarf an Nahrung wird auf 2279 kcal/Tag und Person festgesetzt, also knapp über den 2100 kcal/ Tag, die die WHO als Richtwert für Mangelernährung festgelegt hat. Der Schwellenwert für Hunger liegt bei 1800 kcal/Tag und Kopf.

Zur Umgehung der Blockade entwickelt sich im Laufe der Jahre der Tunnelbau nach Ägypten zu einer wichtigen Lebensader. Fast alles inklusive Baustahl, Treibstoffe, Autos erreicht den Gazastreifen nun auf diesem Weg. In einem UNO-Bericht werden für September 2011 Mengen genannt, die vergleichbar sind mit dem Umfang aller Importe aus Israel im selben Monat.

Um Druck auf Israel auszuüben, die brutale Blockade aufzuheben, feuern militante Kämpfer:innen seit 2008 verstärkt selbstgebaute Raketen und Mörsergranaten auf Israel ab, die inzwischen auch Tel Aviv und Jerusalem erreichen, was Israel mit immer neuen Strafaktionen beantwortet – eine Gewaltspirale, die bis heute anhält. Insgesamt wurde der Gazastreifen bis heute mit sechs Kriegen überzogen, die Zehntausende Todesopfer sowie immense Schäden an Wohnhäusern, Landwirtschaft, Industrie, Strom- und Wasserinfrastruktur zur Folge hatten (2008/09, 2012, 2014, 2021, 2022, 2023/24). Die ersten fünf Kriege endeten jeweils mit einem fragilen Waffenstillstand, aber keiner wirklichen Lösung des Konflikts. Die Aufhebung der Blockade im Gegenzug zu einem langfristigen Waffenstillstand, wie ihn die Hamas immer wieder anbietet (zuletzt 2014 und 2021), lehnen Israel wie auch die USA standhaft ab und fordern von der Hamas, zuerst die Gewalt zu beenden und Israel anzuerkennen.

Ein zentraler Knackpunkt bleibt auch das Flüchtlingsproblem, das für die gesamte palästinensische Nation, aber speziell für die Menschen in Gaza eine fortwährende Tragödie darstellt. In Massendemonstrationen, dem «Great March of Return», erinnert 2018/19 eine jüngere Generation, die unter den schrecklichen Bedingungen im Gazastreifen geboren wurde, mit Protestcamps in der Nähe des Gaza-Zauns daran, dass sie die Geschichte nicht vergessen hat. Sie fordern ihr Recht auf Rückkehr in das Land, aus dem ihre Eltern und Grosseltern vertrieben wurden. Die mehrheitlich gewaltfreien Proteste, die eher den Charakter eines Open-Air-Festivals haben, werden seitens des israelischen Militärs mit tödlicher Gewalt beantwortet. Dabei sterben zahlreiche unbewaffnete Zivilist:innen, darunter Journalist:innen und medizinisches Personal.

Internationale Organisationen wie der IWF oder die WHO weisen regelmässig auf die katastrophalen Aussichten für den Gazastreifen hin. Um sich von dieser schleichenden Strangulierung zu befreien, scheint die Hamas beschlossen zu haben, den Status quo am 7. Oktober 2023 durch einen lange vorbereiteten, präzedenzlosen Überraschungsangriff auf Israel auf den Kopf zu stellen und dabei Geiseln zu nehmen, um Israel zu Eingeständnissen zu zwingen. Durch Israels prompte, alles zerstörende Vergeltungsangriffe aus der Luft, eine massive Bodenoffensive und die Verhängung der «vollständigen Belagerung» des Gazastreifens (u.a. Stopp der Lieferung von Strom, Wasser, Nahrungsmitteln, Medizin, Treibstoff) steigt das Leid der Zivilbevölkerung ins Unermessliche.

Alles deutet darauf hin, dass Israel den Anschlag vom 7. Oktober nun als Vorwand für einen bereits bestehenden Masterplan nutzt, um sich der Palästinenser: innen zu entledigen, die der Errichtung eines Grossisraels mit souveräner Kontrolle über das Westjordanland und Teile des Gazastreifens im Weg stehen. Israel scheint es mehr um die Vollendung des zionistischen Projekts als um die Wiederherstellung der territorialen Sicherheit zu gehen.