«In Gaza sind Frauen die Letzten, die essen, und Kinder die Ersten, die sterben»

Agnes Küng

Dezember fest, dass im Süden des Gazastreifens 93 Prozent der Menschen mangelernährt sind, wobei mehr als 56 Prozent unter schwerem Hunger leiden. Pro Person stehen weniger als 2 Liter Trinkwasser pro Tag zur Verfügung. Im Norden ist die Situation noch katastrophaler.

Tausende Frauen haben Kinder, Ehemann und weitere Familienangehörige verloren. Als Witwen fungieren sie nun als Familienoberhäupter und müssen sich um die restlichen Kinder sowie andere Angehörige kümmern. Schwer traumatisiert, versuchen sie, Nahrung, Wasser, medizinische Versorgung und Unterkunft zu beschaffen. Oft essen sie nur einmal am Tag2, um zuerst ihre Kinder zu ernähren. Vertreibung, psychische Traumata, Hunger und der Mangel an Hygiene, medizinischer Versorgung, sauberem Wasser in oft überfüllten Unterkünften, ständige Bombardierungen sowie der Beginn des Winters mit Kälte und starken Regenfällen bringt die Menschen an ihre Grenzen. «Wir sehen überall im Gazastreifen Frauen und Kinder, die unter enormem Stress stehen und mit unvorstellbaren Schrecken konfrontiert werden», sagen Vertreter:innen von Hilfswerken3, denen es kaum mehr möglich ist, die Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen. Frauen und Kinder sterben an vermeidbaren und behandelbaren Krankheiten sowie Verletzungen und Hunger.

Nur wenige Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen sind überhaupt und dann nur teilweise in Betrieb, sodass viele der unzähligen Verwundeten und durchschnittlich 180 Mütter4, die jeden Tag ein Kind zur Welt bringen, keine oder nur eine eingeschränkte medizinische Versorgung, Zugang zu sauberem Wasser oder Hilfe bei der Entbindung erhalten. Besonders tragisch ist es für jene 15 Prozent der Mütter, die aufgrund von Problemen zusätzliche medizinische Versorgung benötigen würden. Viele von ihnen sterben an Infektionen und medizinischen Komplikationen. Ärzte berichten, dass sie mangels Medikamenten Kaiserschnitte ohne Betäubung durchführen müssen und dass viele Mütter ihre Babys direkt nach der Geburt verlieren, weil es keinen Strom gibt, um Inkubatoren zu betreiben, oder weil sie nicht ausreichend Milch haben, um ihre Babys zu stillen. Babynahrung, Windeln, warme Kleidung fehlen weitgehend. Auch Hygieneprodukte und Verhütungsmittel sind nicht mehr auffindbar, Toiletten und Waschgelegenheiten in den überfüllten Unterkünften rar und in den Zeltstätten inexistent. Die Gefahr von geschlechtsspezifischer Gewalt, Missbrauch und Diskriminierung steigt, während es keine Kapazitäten für Überwachung, Beratung oder Erste Hilfe mehr gibt. Hinzu kommen Verhaftungen von Frauen und Kindern, die in israelischen Gefängnissen schweren Misshandlungen5 ausgesetzt sind.

Seit dem 7. Oktober kommen jeden Tag durchschnittlich 115 Kinder um, was diesen Konflikt zum tödlichsten für Kinder in der neueren Zeit macht. Sie erleiden schreckliche Verletzungen, verlieren Beine, Arme, ihr Augenlicht. Sie fragen, ob dieser Tag vielleicht ihr letzter sein könnte. Mütter erzählen, dass ihre Kinder nicht mehr sprechen oder essen. Andere weinen und schreien bei jedem lauten Geräusch. Vier Monate Krieg haben eine ganze Generation von Kindern traumatisiert. Nicht ohne Grund stellte Antonio Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, deprimiert fest: «Die Menschen in Gaza blicken in den Abgrund. Die Augen der Welt und die Augen der Geschichte schauen zu.»

Aktualisierte Zahlen6 zu Frauen und Mädchen im Gazakrieg finden sich auf der Website von UN Women. Unter der Rubrik Know their Names7 leistet Al Jazeera einem Teil der inzwischen rund 10 000 getöteten Kinder, die mit Namen und Alter aufgelistet werden, Tribut.