Jenseits jeglichen Völkerrechts

Jenny Schmid

Israels Vorgehen in Gaza steht in der Kritik – nicht erst seit dem 7. Oktober 2023. Bereits der im Auftrag des UN-Menschenrechtsrats verfasste Goldstone-Bericht1, der den Gaza-Krieg 2008 untersuchte, kam zu einem klaren Schluss: Zwar werden auch palästinensischen bewaffneten Gruppen Völkerrechtsverletzungen zur Last gelegt, der Bericht schreibt aber Israel die überwiegende Verantwortung für die katastrophale Lage im Gazastreifen zu und konstatiert, dass die israelische Armee das humanitäre Völkerrecht in gravierender Weise missachtet. Der Angriff der israelischen Armee sei gegen die Bevölkerung des Gazastreifens als Ganzes gerichtet gewesen – als Teil einer Politik der kollektiven Bestrafung der Zivilbevölkerung für ihren Widerstand und ihre angebliche Unterstützung der Hamas.

Kein Schutz der Zivilbevölkerung

Bereits jetzt scheint klar: Israel bestraft Gazas Zivilbevölkerung schon seit Jahren durch die Abriegelung der Enklave sowie die weitgehende Vorenthaltung regulärer Versorgung wie auch humanitärer Hilfe kollektiv und missachtet humanitäres Völkerrecht, u. a. dessen Kernstück, die vier Genfer Konventionen. Die vierte Konvention ist besonders relevant, denn sie regelt den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten und verbietet u. a. Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Infrastruktur wie medizinische Einrichtungen. Eine Untersuchung2 des Magazins +972 und der NGO Just Vision kam zum Schluss, dass Israel seit dem 7. Oktober die Angriffe auf nicht-militärische Ziele im Vergleich zu vorherigen Aggressionen bedeutend ausgeweitet hat. Das Bombardieren von Wohnsiedlungen, öffentlichen Gebäuden und Infrastruktur soll die Zivilbevölkerung terrorisieren. Gemäss dem Büro des Hochkommissariats für Menschenrechte griff Israel zwischen 7. Oktober und 7. Dezember 2023 364 Mal Gesundheitseinrichtungen an. Gerechtfertigt werden solche Angriffe mit dem Argument, die Hamas nutze zivile Infrastrukturen als Kommandozentralen. Dafür fehlen oft stichhaltige Belege und auch wenn sich dies in gewissen Fällen bewahrheiten würde, ist Israel verpflichtet, Zivilpersonen vor unverhältnismässigem Schaden zu schützen. Menschenrechtsexpert:innen stellen Israels oft proklamiertes Recht auf Selbstverteidigung grundsätzlich in Frage. Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten, betonte in einer Rede3: «Israel wurde nicht von einem anderen Staat angegriffen, sondern von einer bewaffneten Gruppe in einem besetzten Gebiet. Es kann nicht das Recht auf Selbstverteidigung gegen eine Bedrohung beanspruchen, die von einem von Israel besetzten Gebiet ausgeht.»

Genozidale Absichten

Viele besorgte Stimmen warnen vor einem Genozid in Gaza. So publizierten palästinensische Menschenrechtsorganisationen, Genozid-Expert:innen sowie jüdische zivilgesellschaftliche Organisationen eine entsprechende Stellungnahme4 und bekannte israelische Persönlichkeiten richteten sich in einem Brief5 an die israelische Generalstaatsanwaltschaft. Die UN-Völkermordkonvention definiert Genozid als Handlung, «die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören». Ausschlaggebend ist nicht die Zahl der Getöteten, sondern die Zerstörungsabsicht. Von den fünf in der Konvention verbotenen Handlungen begeht Israel gemäss Genozidexperte Raz Segal6 mindestens drei: die Tötung von Mitgliedern der Gruppe, das Verursachen von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe sowie das Aufzwingen von Lebensbedingungen, die die Gruppe zerstören. Die südafrikanische Regierung reichte Ende Dezember 2023 beim Internationalen Gerichtshof eine Klage ein, in der sie Israel vorwirft, einen Völkermord gegen die palästinensische Bevölkerung zu begehen. In der ersten öffentlichen Anhörung7 argumentierte die südafrikanische Anwältin Adila Hassim, dass Israel neben den drei oben beschriebenen genozidalen Handlungen auch eine vierte begeht: die Verhinderung von Geburten – durch die Gewalt gegen schwangere Frauen, Neugeborene und Kinder.

Auch ethnische Säuberung wird Israel vorgeworfen, also die Vertreibung der Palästinenser:innen als ethnische Gruppe aus ihrem Herkunftsland, wie unter anderem das +972Magazine8 berichtet. Dies wird im Völkerrecht nicht als eigenständiges Verbrechen anerkannt. Im Rahmen des internationalen Straftribunals für Ex-Jugoslawien hielten Expert:innen aber fest, dass solche Taten unter die Genozid-Konvention fallen können.

Gefährliche Sprache

Ein wichtiger Indikator für genozidale Absichten ist die Verwendung einer Sprache, die die Zielgruppe entmenschlicht. Die Absicht zum Genozid werde von Täterseite selten so eindeutig benannt, wie es in Israel derzeit geschehe, schreibt Segal. Verteidigungsminister Joaw Gallant sprach am 9. Oktober Klartext: «Wir verhängen eine vollständige Belagerung über Gaza. Kein Strom, kein Essen, kein Wasser, kein Treibstoff. [...] Wir bekämpfen menschliche Tiere und werden entsprechend handeln.» Diese Äusserung ist nur eine von vielen. Eine exemplarische Sammlung findet sich auf der Webseite9 des Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern. An Israels genozidalen Absichten ändert auch die Tatsache nichts, dass Israel angesichts der Klage Südafrikas beim Internationalen Gerichtshof momentan seine Äusserungen etwas mässigt.