Lektüreempfehlungen
«Shut Down Nation»
In einem Beitrag auf mondoweiss analysiert der in Deutschland lebende Ökonom und Koordinator der Kampagne für ein Militärembargo für den palästinensischen BDS-Ausschuss (BNC), Shir Hever, die Wirtschaftskrise, die Israel vor dem Hintergrund des Kriegs gegen den Gazastreifen momentan im Griff hält. Von westlichen Medien totgeschwiegen, werden die massiven Einbrüche in der Wirtschaft und den internationalen Kooperationen in israelischen Medien besorgt kommentiert. Während das Gemetzel weitergeht, boykottieren immer mehr Länder und Unternehmen Israel. Andere boykottieren es diskret, also ohne es anzukündigen. Zehntausende KMU sind in Konkurs gegangen, der Tourismus ist fast zum Erliegen gekommen, ausländisches Kapital zieht ab und viele Israelis verschieben ihr Vermögen ins Ausland, Forschungskooperationen brechen ein und viele der bestausgebildeten und qualifizierten Israelis kehren dem Land den Rücken. Nur die Rüstungsindustrie boomt und im Hightech- Sektor kaufen ausländische Unternehmen Firmen zu Schnäppchenpreisen auf. Israel hat stark auf seine Innovationskraft und Zukunftsvisionen gesetzt. Die aktuelle Wirtschaftskrise zeigt, wie wesentliche Faktoren der Innovation verloren gehen und sich die Zukunft des Landes verdüstert.
Shir Hever, «The end of Israel’s economy», www.mondoweiss.net/2024/07/the-end-of-israels-economy, 19. Juli 2024
Zum selben Thema siehe auch «The Israel Boycott is working and it is DEVASTATING, but the media are hiding it» mit Zitaten aus israelischen Medien, Redacted News, www.youtube.com/watch?v=AwgvbF0H32A vom 13.6.2024
Die Logik der endlosen Gewalt
In einem so aufschlussreichen wie erschütternden Gastbeitrag in der Serie «The long read» im britischen Guardian beschreibt der in den USA lebende israelische Professor für Holocaust- und Völkermordstudien seine Eindrücke über den mentalen Zustand der israelischen Gesellschaft, die den Völkermord im Gazastreifen ohne Zögern zulässt und als unvermeidbar empfindet. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bilden eine Begegnung mit Studierenden einer rechtsradikalen Organisation, die im Gazastreifen im Einsatz waren, und Aussagen von Freund:innen, die jede Diskussion über die Rechtmässigkeit des israelischen Vorgehens in Gaza abblocken. Vor dem Hintergrund seiner Studien zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Unterstützung ehemaliger Nachbarn an der Judenverfolgung im ursprünglich gemischt bevölkerten Herkunftsdorf seiner Mutter in Polen fragt Bartov nach den mentalen bzw. ideologischen Voraussetzungen einer Gesellschaft, die zu den schlimmsten Verbrechen bereit ist und sich dabei völlig im Recht fühlt. Die Ursachen für den aktuellen Zustand sieht er tief im Selbstverständnis und der Geschichte Israels verankert.
Nachfolgend ein paar Ausschnitte:
«Als ehemaliger Soldat der israelischen Armee (IDF) und Historiker des Völkermords war ich bei meinem jüngsten Besuch in Israel zutiefst beunruhigt. In diesem Sommer protestierten rechtsextreme Studierende gegen eine meiner Vorlesungen. Ihre Rhetorik erinnerte an einige der dunkelsten Momente der Geschichte des 20. Jahrhunderts – und deckte sich in schockierendem Ausmass mit den Ansichten des israelischen Mainstreams. […]
Diese persönlichen Erfahrungen weckten mein Interesse an einer Frage, die mich schon lange beschäftigt: Was motiviert Soldat:innen zum Kämpfen? In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vertraten viele amerikanische Soziolog:innen die Ansicht, dass Soldat:innen in erster Linie füreinander kämpfen und nicht für ein größeres ideologisches Ziel. Aber das passte nicht ganz zu dem, was ich als Soldat erlebt hatte: Wir glaubten, dass wir für eine grössere Sache kämpften, die über unsere eigene Gruppe von Kamerad: innen hinausging. Als ich mein Studium abgeschlossen hatte, begann ich mich auch zu fragen, ob Soldat:innen im Namen dieser Sache zu Handlungen gezwungen werden konnten, die sie sonst als verwerflich empfunden hätten. […]
Heute herrschen in weiten Teilen der israelischen Öffentlichkeit, auch bei Regierungsgegner:innen, zwei Gefühle vor: erstens eine Kombination aus Wut und Angst, der Wunsch, die Sicherheit um jeden Preis wiederherzustellen, und ein völliges Misstrauen gegenüber politischen Lösungen, Verhandlungen und Versöhnung. Der Militärtheoretiker Carl von Clausewitz stellte fest, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, und warnte davor, dass er ohne ein definiertes politisches Ziel zu grenzenloser Zerstörung führen würde. Die Stimmung, die jetzt in Israel vorherrscht, droht ebenfalls den Krieg zu seinem eigenen Zweck zu machen. In dieser Sichtweise ist die Politik ein Hindernis für die Erreichung von Zielen und nicht ein Mittel zur Begrenzung der Zerstörung. Dies ist eine Sichtweise, die letztlich nur zur Selbstvernichtung führen kann.
Die zweite vorherrschende Einstellung – oder vielmehr das Fehlen einer Einstellung – ist die Kehrseite der ersten. Es ist die völlige Unfähigkeit der heutigen israelischen Gesellschaft, Mitgefühl für die Bevölkerung des Gazastreifens zu empfinden. Die Mehrheit, so scheint es, will nicht einmal wissen, was in Gaza geschieht, und dieser Wunsch spiegelt sich in der Fernsehberichterstattung wider. […]
Natürlich hat sich die israelische Öffentlichkeit längst an die brutale Besatzung gewöhnt, die das Land in 57 der 76 Jahre seines Bestehens geprägt hat. Aber das Ausmass dessen, was die Armee derzeit im Gazastreifen verübt, ist ebenso beispiellos wie die völlige Gleichgültigkeit der meisten Israelis gegenüber dem, was in ihrem Namen geschieht. […]
Dies ist die Logik der endlosen Gewalt, eine Logik, die es erlaubt, ganze Bevölkerungen zu vernichten und sich dabei völlig gerechtfertigt zu fühlen. Es ist eine Logik des Opferdaseins – wir müssen sie töten, bevor sie uns töten, wie sie es zuvor getan haben – und nichts stärkt die Gewalt mehr als ein rechtschaffenes Gefühl des Opferdaseins.»
Omar Bartov, As a former IDF soldier and historian of genocide, I was deeply disturbed by my recent visit to Israel, The Guardian, The long read, 13. August 2024, www.theguardian.com/world/article/2024/aug/13/israel-gaza-historian-omer-bartov
The Unpunished: How Extremists Took Over Israel
«Nachdem es 50 Jahre lang nicht gelungen ist, die Gewalt und den Terror der jüdischen Ultranationalist:innen gegen die Palästinenser:innen zu stoppen, ist die Gesetzlosigkeit zum Gesetz geworden.»
Wie ein Krimi liest sich der detaillierte Artikel der beiden Autoren Ronen Bergman und Mark Mazzetti im New York Times Magazine. Sie zeigen auf, wie immer extremere und gewaltbereitere Persönlichkeiten und Gruppen in Israel bis ins Zentrum der Macht aufsteigen konnten und heute Ministerposten bekleiden. Israelkritische Kräfte kritisieren seit Langem die Straflosigkeit, die Israel für seine Völker- und Menschenrechtsverletzungen im Ausland und insbesondere bei seinen westlichen Verbündeten geniesst. Genauso problematisch, aber in ihrer bedrohlichen Dimension oft nicht wahrgenommen, ist eine Entwicklung in Israel selbst: dass seit Beginn der Besetzung palästinensischen Gebiets 1967 innerhalb der israelischen Behörden ein Klima des Wohlwollens und der Duldung rechtswidriger Praktiken der Siedlerbewegung vorherrscht, diese immer gewaltbereiter ist und sich immer weiter radikalisiert hat, sodass heute Kräfte dominieren, die Rechtsstaatlichkeit und die auch selektiv nur für die jüdische Bevölkerung geltende Demokratie offen ablehnen. Gestützt auf zahlreiche Interviews mit ehemaligen Verantwortlichen aus Justiz, Geheimdienst, Militär und Staatsapparat, kommen die Autoren zum Schluss, dass das Wissen um die Radikalisierung und die zunehmende Gefahr durch terroristische Siedler:innen den Verantwortlichen sehr wohl bewusst war, sie aber angesichts der politischen Unterstützung dieser Kräfte von juristischen oder administrativen Konsequenzen weitgehend abgesehen haben. Aufschreckende Berichte wurden schubladisiert, die Generalstaatsanwaltschaft hat wiederholt von Strafverfolgung bekannter Extremisten abgesehen, Regierungschefs begnadigen überführte Kriminelle, Ministerialbeamte schleusen Mittel in den Ausbau der Siedlungen, Armee und Geheimdienst sehen Gewalttaten der Siedler:innen meist tatenlos zu und die Polizei bekennt, zur Durchsetzung des Gesetzes nicht in der Lage zu sein. Das Fazit der Autoren: «Nach 50 Jahren straffreier Kriminalität sind die gewalttätigen Siedler:innen und der Staat in vielerlei Hinsicht eins geworden.» Dem Ziel gehorchend, sich insbesondere das Westjordanland auch gewaltsam anzueignen, dürfte ein offener Krieg für die radikalsten Teile der Siedlerbewegung heute eine willkommene Option darstellen. Nach Einschätzung des früheren Premierministers Ehud Olmert wollen die Ultrarechten eine «Intifada, weil sie der ultimative Beweis dafür ist, dass es keine Möglichkeit gibt, mit den Palästinenser: innen Frieden zu schliessen, und dass es nur einen Weg gibt – sie zu vernichten.»
Ronen Bergman, Mark Mazzetti, The Unpunished: How Extremists Took Over Israel, New York Times Magazine, 16. Mai 2024
www.nytimes.com/2024/05/16/magazine/israel-west-bank-settler-violence-impunity.html