Staatsräson in Deutschland, aber auch in der Schweiz
Hanspeter Gysin
Die Rede von Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Sicherheit Israels sei «deutsche Staatsräson», ist Doktrin und geht hin bis zur Interpretation, Deutschland müsse im Nahen Osten in den Krieg ziehen, sollte Israel militärisch angegriffen werden. Staatsräson bedeutet, nicht zum ersten Mal in der deutschen Geschichte, dass die Interessen des Staates über alle anderen Rechte gestellt werden, insbesondere über Menschenund Völkerrecht.
Von der rechtsextremen Alternative für Deutschland bis hin zur Partei Die Linke ist Deutschland vereint in unverbrüchlicher Solidarität mit Israel und damit Komplizin bei Landraub, ethnischer Säuberung und dem Genozid der israelischen Armee an der Zivilbevölkerung des Gazastriefens. Was immer das Besatzungsregime tut, wird mit «Israels Recht auf Selbstverteidigung » legitimiert; ausdrücklich auch die Bombardierung des Gazastreifens.
Die gesamte politische Elite des Landes ist sich darin einig, Solidaritätsbekundungen mit dem palästinensischen Volk und Proteste gegen das Massenmorden im Gazastreifen zu unterbinden oder einzudämmen. Und so kommt es denn auch dazu, dass palästinensische Flaggen und gar Keffiyes (das traditionelle arabische Halstuch) von der Polizei beschlagnahmt werden, dass staatliche wie private Institutionen Räume für Informationsveranstaltungen verweigern, dass Kundgebungen verboten werden und wer trotzdem protestiert, juristisch verfolgt wird.
Wer sich nicht ausdrücklich für Israel positioniert, wird stigmatisiert und bedroht. Öffentlich zelebriertes Mitgefühl wird ausschliesslich israelischen Opfern dieses Krieges entgegengebracht. Deutsche Politiker wie Kanzler Olaf Scholz und sein Vize Robert Habeck geisseln in vielbeachteten Reden die Taten der «Hamas» mit empörten Worten wie «Gewaltorgie » etc. Zum Massenmord an der Bevölkerung im Gazastreifen fehlen ihnen die verurteilenden Worte.
Trotz Hetze und Kriminalisierung gehen inzwischen weite Teile der Zivilgesellschaft in Deutschland landauf, landab auf die Strasse und fordern Freiheit für Palästina, Waffenstillstand jetzt! Stop the Genocide!
Studierende in Berlin und anderswo brechen allen Einschüchterungsversuchen zum Trotz das Schweigen. Der Berliner Kultursenat beabsichtigte, die Vergabe von Kunstförderung an ein Bekenntnis zur IHRA-Antisemitismusdefinition zu binden, scheiterte jedoch an Bedenken seiner juristischen Berater:innen zur Durchsetzbarkeit. Studierende der Uni Potsdam sehen aufgrund der einseitigen Solidaritätsbekundungen ihrer Universität die akademische Freiheit und das Recht auf freie Meinungsäusserung massiv eingeschränkt und greifen eine Kernparole der 68er-Studentenbewegung auf: «Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren!»
Ähnliches Bild in der Schweiz
Der derzeitige Aussenminister Ignazio Cassis war bis zu seiner Wahl in den Bundesrat Mitglied der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Israel. Diese für gemein wurde von Mitgliedern der ultrareaktionären Partei Eidgenössisch Demokratische Union, der Nachfolgeorganisation der fremdenfeindlichen Nationalen Aktion, ins Leben gerufen und wird heute von Erich von Siebenthal, einem evangelikalen Fundamentalisten, der bei der SVP politisiert, präsidiert. Mitglied ist auch Daniel Jositsch, Rechtsaussen der Sozialdemokratischen Partei.
Cassis liebäugelt schon seit Längerem mit der Schwächung der humanitären Unterstützung für die besetzten palästinensischen Gebiete. Im Jahr 2021 musste nach negativen Presseberichten, obwohl ihm in einer internen Untersuchung nichts Nachteiliges nachgewiesen werden konnte, der damalige Leiter des Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge, UNRWA, der Schweizer Pierre Krähenbühl, zurücktreten.
In Deutschland wie in der Schweiz wird von offizieller Stelle nach wie vor von einer «Zweistaatenlösung» geredet. Im Wissen um die Unmöglichkeit, angesichts der von Israel geschaffenen Tatsachen einen lebensfähigen palästinensischen Staat zu etablieren, wird dieses «Bekenntnis» zur faktischen Unterstützung des Ziels eines möglichst araberfreien Grossisraels.
Aber auch in der Schweiz finden regelmässig Demonstrationen und andre Protestaktionen statt. Neben Komitees in allen grösseren Städten ist auch eine neue nationale Koordination entstanden, die das koloniale Erbe des Zionismus anprangert, entschieden einen sofortigen Waffenstillstand fordert und Kampagnen der BDS-Bewegung, etwa zu einem Militärembargo, aufgreift. Die oft jungen Aktivist:innen, viele davon mit palästinensischen Wurzeln, lassen sich durch die in den Medien regelmässig erhobenen Antisemitismusvorwürfe nicht mehr einschüchtern und eignen sich ihre eigene Geschichte und vielfältige Formen des Widerstands gegen das israelische Apartheidregime an.