Systematische Unterdrückung im Westjordanland und in Israel
Robin Walz
Westjordanland – Fortgeschrittene Annexionspläne
Die israelische Regierung nutzt diese Gelegenheit, um im Westjordanland an längst festgelegten, öffentlich kommunizierten1 und vorangetriebenen Annexionsplänen2 zu feilen, ohne dabei auf Widerstand oder Sanktionen der internationalen Gemeinschaft zu stossen. Systematische Gewaltanwendung und Vertreibung – oftmals in Zusammenarbeit mit Siedler:innen – sowie Massenverhaftungen gehören zu den Mitteln, mit denen die israelische Armee diese Pläne verfolgt.
Seit dem 7. Oktober 2023 führt das Militär tagsüber und vor allem nachts völkerrechtswidrige Überfälle auf Städte im Westjordanland durch. Solche Überfälle waren schon vor Kriegsbeginn gang und gäbe, doch haben sie seither ein beispielloses Ausmass3 erreicht – praktisch alle Städte sind davon betroffen. Dabei wendet die Armee unverhältnismässige Gewalt an. In den vergangenen drei Monaten wurden im Westjordanland und in Ostjerusalem mindestens 369 Palästinenser:innen getötet4, die meisten davon durch israelische Soldat:innen. Bei den Invasionen werden zudem massenweise Personen verhaftet. Seit Oktober 2023 ist die Zahl palästinensischer Häftlinge rasant angestiegen5. Über ihre unmenschliche Behandlung in israelischen Gefängnissen berichten diverse Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International6 und Human Rights Watch7: Gefangene sind Erniedrigungen, Entzug von Nahrung und medizinischer Betreuung, Isolation, Verweigerung von Rechtsbeistand, physischer Gewalt und vielem mehr ausgesetzt.
Auch haben sich Gewaltakte – mit teilweise tödlichem Ausgang – von bewaffneten Siedler:innen intensiviert. In Salfit8 zum Beispiel griffen sie Olivenbauern an und drohten ihnen mit der «Grossen Nakba», sollten sie ihre Häuser nicht verlassen und nach Jordanien fliehen. In Masafer Yatta9 überfielen Siedler:innen zahlreiche Dörfer, attackierten die Bewohner:innen und stellten ihnen ein Ultimatum: innerhalb von 24 Stunden fliehen oder sonst getötet werden. Ein Bericht von +972 Magazine10 erzählt die Geschichte von Amer Abu Awad. Zusammen mit seinem älteren Vater wurde er von Siedlern verprügelt, mit Waffen bedroht und vor das erwähnte Ultimatum gestellt. Man drohte ihm dabei mit der Ermordung seiner Familie. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation B’Tselem11 wurden seit dem 7. Oktober 2023 über tausend Palästinenser:innen aus Dörfern in der vom israelischen Militär kontrollierten Area C vertrieben, davon 371 Kinder.
Das Ziel ist klar: Die Palästinenser:innen sollen eingeschüchtert werden, um sie vertreiben und sich das Land aneignen zu können. Dabei erhält die Siedlerbewegung kräftige Unterstützung von der israelischen Regierung und vom Militär. Dazu gehört nicht nur die Bewaffnung der Siedler:innen12 und deren Beschützung durch israelische Soldat:innen, sondern auch die direkte Beteiligung der Einsatztruppen an Gewaltakten gegen Palästinenser:innen. Ein besonders schrecklicher Fall ereignete sich gemäss der Zeitung Haaretz13 am 12. Oktober 2023, als drei Palästinenser stundenlang von israelischen Soldaten und Siedlern misshandelt wurden. Man schlug auf sie ein, zog ihnen die Kleider aus, drückte Zigaretten auf ihren Körpern aus und urinierte auf sie. Zudem soll einer der Betroffenen sexuell belästigt worden sein.
Eine weitere Repressionsmassnahme müssen palästinensische Arbeiter:innen im Westjordanland ertragen, die normalerweise in Israel tätig sind. Etwa 120 00014 von ihnen wird seit Ausbruch des Gazakrieges die Einreise verweigert. Sie können somit ihrer Arbeit nicht nachgehen und haben ihre Einnahmequelle verloren.
Israel – Starke Einschränkung der Meinungsfreiheit
Auch die Palästinenser:innen mit israelischer Staatsbürgerschaft, rund 20 Prozent der israelischen Gesellschaft, müssen repressive Massnahmen ertragen. Damit soll jegliche Kritik an der israelischen Kriegsführung im Gazastreifen beziehungsweise dessen Bombardement unterdrückt werden.
Mehrere NGOs – darunter Adalah15 – und Gewerkschaften haben Beschwerden von Arbeiter:innen und Studierenden erhalten. Für Posts in den sozialen Medien, in denen sie sich mit den Menschen im Gazastreifen solidarisierten, auf das Töten von unschuldigen Kindern hinwiesen oder ein Ende des Krieges forderten, wurden sie in der Arbeit oder an der Universität mit Disziplinarmassnahmen bestraft oder suspendiert16 und teilweise sogar verhaftet17.
Zusätzlich zu diesen Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind palästinensische Studierende zunehmendem Hass ausgesetzt. So versammelte sich am 28. Oktober 2023 ein Mob von jüdischen Extremisten ausserhalb von Studierendenwohnheimen am Netanya Academic College und rief «Tod den Arabern»18. Solche Mobs sind in den letzten Monaten vermehrt unterwegs, sodass sich viele Palästinenser:innen abends oft nicht mehr auf die Strassen trauen. Die von der israelischen Regierung geförderte Bewaffnung jüdischer Bürger:innen19 gefährdet die Sicherheit der Palästinenser:innen in Israel noch mehr.
Eine Änderung des sogenannten Anti-Terror-Gesetzes, das neu auch den Konsum von «terroristischen» Inhalten – gemäss Israels Definition – strafbar machen soll, wurde von der Knesset am 8. November 2023 verabschiedet20. Bei Verstoss droht eine Gefängnisstrafe von bis zu einem Jahr. In einer Stellungnahme21 zeigt die NGO 7amleh auf, wie das Gesetz die Kriminalisierung von Menschen ermöglicht, die weder ein Verbrechen begangen noch ein solches geplant haben. Es erhöht die israelische Überwachung palästinensischer Bürger:innen und verletzt ihre Privatsphäre, ihre Meinungsfreiheit und ihr Recht auf Informationszugang.
- www.newarab.com/news/israeli-minister-callsannexation-occupied-west-bank
- www.adalah.org/uploads/uploads/Annexation_37th_govt_EN.pdf
- www.aljazeera.com/news/2023/12/28/unparalleled-israeli-army-raids-ramallah-more-occupied-west-bank-cities
- www.aljazeera.com/news/longform/2023/10/9/israel-hamas-war-in-maps-and-charts-livetracker
- www.aljazeera.com/features/2023/10/21/number-of-palestinian-prisoners-in-israel-doubles-to-10000-in-two-weeks
- www.amnesty.org/en/latest/news/2023/11/israel-opt-horrifying-cases-of-torture-anddegrading-treatment-of-palestinian-detainees-amid-spike-in-arbitrary-arrests
- www.hrw.org/news/2023/11/29/why-does-israelhave-so-many-palestinians-detention-andavailable-swap
- www.haaretz.com/israel-news/2023-10-27/ty-article/.premium/wait-for-the-great-nakba-palestinians-find-threatening-leaflets-oncars-in-west-bank/0000018b-72aa-d1da-a1bb-7fba5a020000
- viacampesina.org/en/imminent-massacre-threatens-palestinian-peasants-in-east-hebron/
- www.972mag.com/hebron-area-settler-violenceexpulsions
- www.btselem.org/settler_violence/20231019_forcible_transfer_of_isolated_communities_and_families_in_area_c_under_the_cover_of_gaza_fighting
- www.timesofisrael.com/ben-gvir-says-10000-assault-rifles-purchased-for-civilian-securityteams
- www.haaretz.com/israel-news/2023-10-21/ty-article-magazine/.premium/beatings-burnsattempted-sexual-assault-settlers-and-soldiers-abused-palestinians/0000018b-530fd1d7-ab8b-7f5fca1d0000
- www.haaretz.com/israel-news/2024-01-22/ty-article-magazine/.premium/israel-wontlet-palestinian-workers-in-but-its-economyneeds-them-desperately/0000018d-2bda-dd75-addd-fbfb543a0000
- www.adalah.org/uploads/uploads/Data_Students_Presentation.pdf
- www.aljazeera.com/features/2023/10/15/fromfriend-to-enemy-palestinians-in-israel-suspended-from-jobs-over-war
- www.972mag.com/israeli-academia-crackdownpalestinian-students
- www.middleeasteye.net/news/israel-palestinian-students-trapped-hours-hundreds-israelischanted-death-arabs
- www.timesofisrael.com/ben-gvir-says-10000-assault-rifles-purchased-for-civilian-securityteams
- www.aljazeera.com/news/2023/11/8/knesset-introduces-consumption-of-terrorist-publication-as-offense
- 7amleh.org/2023/11/20/7amleh-releases-a-position-paper-on-the-israeli-law-prohibitingthe-consumption-of-terrorist-publications